„Ich will euch alle mal an unser Mantra erinnern – worum es uns eigentlich geht.“ Dann riss er seine schäbige Armeetasche auf und zog einige alte Vinyls raus. „Das hier ist der Höhepunkt. Das sind die weißen Klippen von Dover, von denen wir runterspringen. Von hier aus fangen wir an. Wir sind eine Pub-Rock-Band und spielen keinen beschissenen Jazz.“
Die Alben waren Booker T and the MG’s Greatest Hits, Jimmy Reed at Carnegie Hall, The Everly Brothers Greatest Hits (zwei Scheiben), eine Promo-Collection der Singles von Johnny Kidd and the Pirates, The Best of Little Walter auf Chess Records und Bob Dylans Nashville Skyline. Crow wollte die musikalische Entwicklung kontrollieren, nicht nur beeinflussen. Nachdem er der kompletten Band – und jedem anderen, der sich kreativ engagierte – in andächtiger Stille jedes Album beziehungsweise Set zum Anhören aufgezwungen hatte, machten sie sich an die Arbeit. Schon bald stellte man sich angesichts der Musik, die sie spielten, einen großen amerikanischen Donnerhobel vor mit einem V8-Motor, der aus seinen Auspuffen fast einen Liter ungenutzten Kraftstoffs auf den Teer spuckte, bevor er sich, blauen Rauch in die Luft blasend, unbarmherzig auf einen zubewegte.
Steve Hanson bediente den Bass. Hanson, wie er am liebsten genannt wurde, stellte die Ausnahme von der Pub-Rock-Regel bei Walter and His Stand dar.
„Wir haben’s kapiert, Crow“, willigte er ein. „Keinen Jazz.“ Er rieb sich langsam und bedächtig die Nase, äffte damit Walters Macke nach und zog ihn damit auf. Das wurde mit einem verschwörerischen Lächeln Walters belohnt: Crow hingegen war viel zu verbissen und ernst, als dass er die Botschaft bemerkt hätte.
Hanson war sehr groß und stämmig, vielleicht auch ein wenig übergewichtig. Alle sahen in ihm den sanften Giganten. In Wahrheit hätte er problemlos seine Kämpfernatur ausspielen können, doch er war viel zu behäbig, um sich darum einen Kopf zu machen. Er trug das schon leicht ergrauende und auf der Kopfmitte ausdünnende Haar lang, oft in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und recht blasse Kleidung, Safarijacken und sogar diese australischen Hüte, die zu groß erschienen und eigentlich hätten Kordeln haben müssen wie bei einem Crocodile Dundee. Im Winter zog er einen lang hinabreichenden Regenmantel an, dessen Saum beinahe den Boden berührte. Ihm war sein unmodisches Erscheinungsbild egal.
Hätte er sich nicht auf den Bass beschränkt, würde sich sein außergewöhnliches musikalisches Können deutlich manifestiert haben. Dass er in der Lage und sogar zufrieden war, als Bassist banddienlich und ohne prahlerische Extravaganzen zu spielen, stellte einen Hinweis auf dieses Talent dar. Ungeachtet dieser Zurückhaltung war er ein begnadeter Pianist und Organist. Wenn es Crow erlaubte, setzte sich Hanson an die Hammond-Orgel (immer mit schnörkellosem Klang, ohne die von so vielen Rock-Keyboardern geliebten wirbelnden Leslie-Lautsprecher) und spielte die einfachen Bassläufe, die für Walters Musik notwendig waren, mit den Fußpedalen.
„Kannst du bei einem Hammond-Solo nur die verfluchten Noten spielen und bitte nicht mit dem Unterwasser-Ding blubbern?“, kommandierte Crow und verzog das Gesicht zu einer drohenden Grimasse. Hanson hatte das bereits verstanden. Keine wirbelnden Leslie-Lautsprecher!
„Du darfst aber weiter deine alberne Klassiker-Perücke tragen.“ Hanson arrangierte sich auf seine Art mit Crow und erhob nie die Stimme. „Ich hab’s kapiert. Wir brauchen mehr Green Onions, mehr von den frühen Booker T und nicht Billy Preston. Aber verdammt, Crow, beide Typen sind Genies.“
„Und das bist du sicher nicht“, keifte Crow. „Behalt deinen Scheiß aus der siebten Klasse für dich und halt das aus der Band raus.“
Hanson nahm sich Walter oft zur Seite, damit dieser sich die experimentellen Orchester-Aufnahmen von György Ligeti anhörte und den fortgeschrittenen und anarchistischen Klavier-Jazz von Bud Powell. Die Intention lag weder darin, das musikalische Spektrum der Band zu erweitern, noch es infrage zu stellen. Es war lediglich als Hinweis auf die abgefahrene Musik gedacht, die es dort draußen gab, und gleichzeitig ein Statement zu ihrem eigenen Sound. Dieser ließ sich als tief verwurzelte Basis, Rückgrat und Verbindung zur Populärmusik des Radios beschreiben, die am besten bei einer langen Autofahrt auf einer kerzengeraden Straße kommt.
Am Schlagzeug saß Hansons Frau Patty. Sie war – wie ihr Mann – ein musikalisches Mauerblümchen, dessen Fähigkeiten unentdeckt blieben. Patty hatte an der Royal Academy studiert und konnte Viola spielen, die meisten Instrumente der barocken Geigenfamilie und schlug sich auch am Cello ganz passabel. Wenn die Band die Musik mal ruhiger ausrichtete, zeigte sie Expertise am Kontrabass und erinnerte an den Sound des frühen Nashville Hank Williams Trio, was Crow gelegentlich erlaubte. Patty hatte darüber hinaus eine markante und wandlungsfähige Stimme, ein von der Band meist nicht genutztes Talent. Sie konnte natürlich Noten lesen und sogar Opern singen, wenn ihr danach war. Die Gute führte wunderbare und lustige Parodien von Dolly Parton auf, Tammy Wynette, Nina Simone und sogar von Sängerinnen mit einzigartigen Stimmen wie Ella Fitzgerald. Manchmal wirkte es so, als könne Patty gar nicht spielen, und gerade das machte sie zu so einer großartigen Pub-Rock-Drummerin. Trotz ihres erstklassigen Bodys, statuenhaft und kurvenreich, aber auch graziös und kräftig – ein Körper, der unter Fans schon zur Legende geworden war –, schien sie nicht die Kraft und Koordination eines energiegeladenen Schlagzeugers zu haben. So spielte sie wenig, aber sehr gut und prägnant, und exakt das führte zu einem einzigartigen Bandsound, der sich von dem anderer abhob. Da die Gruppe so knackig muckte, wirkte sie lauter, als sie tatsächlich war.
An dieser Stelle mag es sinnvoll sein, nur über Walters Rolle und die Arbeit mit der Band zu reden. Als Musiker kann man ihn als diszipliniert und hingebungsvoll charakterisieren. Er fühlte sich glücklich, dem nachzugehen, was er mochte, statt einem für ihn nach dem College abgesteckten Karrierepfad zu folgen. Ihm graute davor, wie ein Sklave in einem kommerziellen Gartenzentrum wie Wisey mit ältlichen Damen zu schuften und den ganzen Tag über Rosen zu stutzen. Walters Songwriting war impulsiv, und er machte sich nur selten tiefgründige Gedanken über das, was er zu Papier brachte. Meist überließ er Crow den musikalischen Feinschliff. Walter beherrschte das Klavier- und Gitarrenspiel recht ordentlich und nahm mit beiden Instrumenten in seinem kleinen Heimstudio Demos auf, doch im Unterschied zu Crow stemmte er sich nicht gegen Experimente mit Effektgeräten für seine Mundharmonika, mit denen er dann neue Rhythmen kreierte sowie komplexe und interessante Sounds.
Walters Frau Siobhan hatte – wie ich auch – hochgesteckte Ziele für ihn, doch sie waren unterschiedlicher Natur. Als mich Walter an jenem Abend plötzlich in meiner Wohnung aufsuchte, berichtete er davon, dass sie glaube, er könne ein Dichter sein. Meiner Ansicht nach könnte aus Walter ein passabler, ein ordentlicher Poet werden, hätte er nicht das Dingwalls zu dem Ort auserwählt, an dem er sich auslebte.
Tatsächlich wissen nur die wenigsten, was einen guten Dichter ausmacht oder wie ein gutes Gedicht anmutet, egal, ob gesprochen, gesungen oder im Street-Style gerappt, doch Walter ging mit Worten ganz geschickt um. Zu seinem großen Glück hatte Crow absolut kein Interesse, an der Fertigstellung der rudimentären Heim-Demos mitzumachen oder sich Credits zu sichern. Die Tatsache, dass Crow Walter bei der Politur der Songs half, aber auf einen Teil der Tantiemen verzichtete, führte dazu, dass die anderen nicht im Entferntesten daran dachten, ihnen stünde auch ein Anteil zu. Walter sann nicht viel darüber nach. Er verdiente zwar drei Mal so viel wie die anderen Musiker, doch da sie massig CDs absetzten – deren Gewinn gleichmäßig verteilt wurde –, konnten sich alle ein ordentliches Leben erlauben.
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