Flugdrachen: Als junger Teenager liebte Walter besonders den Drachen in Old Niks Film, denn noch nie zuvor hatte er so etwas gesehen. In dem Streifen – das hatte mir Maud bei ihrem ersten Besuch verraten – springt Nik zuerst mit einem Flugdrachen von der Bergspitze und gleitet danach über einen großen See. Die Szene wurde zur Illustration der spirituellen Befreiung Nikolai Andréevichs durch die brutale Vereinsamung konzipiert, die er in der Story durchstehen musste.
Ich arrangierte ein Treffen, woraufhin Maud und Nik im September in meine Wohnung kamen, in der Walter den Helden seiner Kindheit endlich treffen sollte.
„Mein Mann, Nikolai.“ Maud führte Old Nik in das lichtdurchflutete Wohnzimmer, das gleichzeitig als Galerie diente. Das einst goldene Haar war nun vollkommen ergraut, an einigen Stellen weiß, aber nicht mehr lang, lockig und voll. Ich schätze mal, Maud hatte ihn überredet, es endlich zu waschen. Nik trug einen Stoppelbart. Als er sich im Raum umsah und einige seiner zur Schau gestellten Arbeiten entdeckte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Plötzlich wirkte er höchst aufmerksam. Sein Gesichtsausdruck war wachsam, als sei er alarmiert.
„Ich freue mich, Sie wiederzusehen“, eröffnete ich das Gespräch. Wir gaben uns die Hand, doch er hatte einen schwachen Händedruck. Ich drehte mich zu Maud. „Vielen Dank hierfür, Maud. Walter wird bald da sein.“
Als Walter ankam, spürte er die Zerbrechlichkeit Niks, ergriff die Initiative, nahm ihn am Arm und führte ihn zu den Bildern, die sie sich gemeinsam ansahen. Die beiden sprachen leise miteinander, aber ich konnte einige Gesprächsfetzen verstehen. Aus Old Nik schien ein Pedant geworden zu sein. Er korrigierte beinahe jede Erinnerung Walters.
„Nein, nein, nein“, hörte ich Nik drängend. „Das war der 27. Mai. Da spielten wir im Batley Variety Club.“
„Die wurde in den De Lane Lea produziert, nicht im Olympic.“
„Nein, wir traten nicht in Ungarn oder der Tschechoslowakei auf.“
„Wir wurden von Carlton Entertainments gemanagt. Der Produktionsmanager war diese kleine Rotznase Frank.“
„Mauds Arbeit? Da musst du sie selbst fragen.“
Daraufhin drehte ich mich zu Maud. „Ja, was haben Sie gearbeitet? Arbeiten Sie immer noch?“
„Ich kümmerte mich von zuhause aus um die Angelegenheiten meines Mannes, sein Studio, seine Garderobe, sein Archiv und so weiter. Frank Lovelace war für die Arbeit auf Tour zuständig.“
Walter schaute zu mir rüber und grinste. Sich Frank als jungen Laufburschen vorzustellen, machte Spaß – wie er Old Nik eifrig Tee brachte oder Taxis heranwinkte.
„Ihr zwei könnt hier ruhig bleiben und euch unterhalten“, bot ich an. „Ich nehme Maud mit in den Richmond Park. Es ist ein sehr angenehmer Tag.“
„Nein.“ Walter drehte sich zu Nik, seinen Kopf zur Seite neigend, vergeblich auf eine Antwort wartend.
„Gehen wir in den Park? Es wäre gut, ein wenig Luft zu schnappen.“
Walter führte Old Nik in die Lobby und stand mit ihm vor dem Fahrstuhl. In dem Moment trafen sich Mauds und mein Blick. Dort standen zwei Generationen von Rockstars, beide von ihren Fans als unantastbar angesehen, mächtig, anmaßend, erfolgreich und potent. Wir wussten, dass beide die gleichen Probleme mit dem Ruhm teilten. Während sich die Fahrstuhltüren schlossen, hob Walter eine Hand zum Gruß. Die beiden wirkten wie Vater und Sohn.
Es war merkwürdig, denn ich fühlte mich ein wenig eifersüchtig. Ich wollte derjenige sein, der Walter den Weg aus seiner Misere aufzeigte, ihn befreite. Ich wusste, dass Andréevich helfen würde, und hatte die beiden einander ja vorgestellt, doch mich beschlich das Gefühl, Walter zu verlieren.
Was würde sich zwischen ihnen abspielen? Maud und ich unterhielten uns über alles Mögliche, doch wir ahnten beide, dass uns die gleichen Fragen bewegten.
Was riet Old Nik Walter?
Was sagte Walter seinem Vorbild, was fragte er ihn? Wie verstanden sich die beiden?
Welchen vernünftigen Ratschlag konnte der alte Rockstar, der sich zu einem Filmstar gewandelt hatte, einem jungen, solide verwurzelten, bescheidenen Künstler geben – praktisch nicht mehr und nicht weniger als ein Pub-Rocker –, dem alten geliebten Schulfreund meiner Rain?
Was hatte Old Nik aus seinen Visionen gelernt?
Würde der Austausch zwischen den beiden die Verbindung zu Siobhan zerstören, die – und ich betete dafür – bereits brüchig genug war, damit Rain dem Narren ihre Liebe gestehen konnte, beichten, dass sie ihn schon immer geliebt habe? Sich das zu wünschen, wäre vielleicht zu viel verlangt.
Doch mit dem Vorteil der rückwärtsgewandten Perspektive erkenne ich nun, dass eine Veränderung angestoßen wurde: Von dem Tag des Treffens mit Andréevich an kehrte Walter seinem alten Leben den Rücken.
Kapitel 4
Als ich an diesem Morgen erwachte, 67 Jahre alt, fragte ich mich, was ich mir wohl am meisten zu meinem Geburtstag wünsche.
Mein erster Gedanke war so absurd, dass es mir schwerfällt, ihn auf diesen Seiten mitzuteilen. Ich wollte ein Geschehnis aus der Vergangenheit rückgängig machen, etwas, das ich getan hatte und das mich zutiefst beschämte. Wäre ich in der Lage gewesen, mir diesen Wunsch zu erfüllen, hätte diese Geschichte kein Ende. Tatsächlich gäbe es gar keine Story zu erzählen.
Doch lassen Sie mich eine einzelne Szene preisgeben. Es ist eine Hochzeit. Eine Pub-Rock-Hochzeit. Die Hochzeit. Es war die Hochzeit, die ich komplett bezahlte, da es Harry finanziell nicht gutging. Ich der Pate, in der Rolle des Paten. Auf eine bestimmte Art war es sowohl meine Hochzeit wie auch die von Walter und Siobhan. Dort standen Blumen, und es gab gutes Essen, obwohl die Menge überschaubar war. Die Feierlichkeiten abgeschlossen, hielten wir uns irgendwo in einem Garten auf. Man hörte Musik. Walter stand mit den Stand auf der Bühne. Schöne Mädchen überall. An zwei erinnere ich mich besonders. Selena und ihre langjährige Freundin Floss. Floss, die mit dem angedunkelten Schneidezahn? Dort hielten sich noch andere schöne Mädchen auf. Crows Frau Agneta gehörte dazu und auch ihre Schar fantastischer blonder Freundinnen aus Göteborg, ein überwältigender femininer Sinnesrausch.
„Bring auf jeden Fall ordentliches Zeug mit, Lou“, hatte mir Crow aufgetragen. „Agneta steht total auf die Bomber.“
Crow meinte damit den Pferdetranquilizer Ketamin. Ich war bei Walter und Siobhans Hochzeit oberster Tranquilizer-Verteiler-Boss, und so überrascht es nicht, dass ich mich an kaum etwas erinnern kann. Doch meine Gastgeberin hier in Frankreich verriet mir, dass ich etwas sehr, sehr Schlimmes angestellt habe. Etwas, das nur sie allein sah. Sie drängte mich auch, clean zu werden. Und so entschied ich mich zum Schreiben, zum Versuch, zu erklären und zu entwirren. Aus genau dem Grund halte ich mich hier auf. Für mich selbst wie auch für das Verarbeiten bestimmter Geschehnisse. Ich wünschte, mein Leben wäre so unbeschwert wie das von Bingo. Ich kraule seinen Kopf. Er wartet ständig darauf, ein Papierknäuel zu fangen, und steht für das exakte Gegenteil eines Tranquilizers. Klug und auf der Hut. Er wird älter als sein neues Herrchen, aber ist niemals bereit, aufzugeben.
Als ich aus dem Fenster meines Adlerhorsts sah, erschien die ganze Welt nebelig oder wie in eine Wolke gehüllt. Ich erkannte kaum die am Haus vorbei und ins Tal führende Straße. In solch einem Zwielicht konnte ich kein einziges Wort schreiben. Bingo fraß sein Frühstück begierig und versuchte, mich aufzuheitern, doch als ich mit ihm durch den Garten spazierte, war mir plötzlich klamm. Ich fühlte mich klamm und unvollkommen.
Ein wenig später bahnte sich glücklicherweise die Sonne ihren Weg durch die Wolken, und ich nahm wieder am Schreibtisch Platz. Bingo wirkte ganz aufgeregt, da ich mich wieder in Bewegung setzte, obwohl nur mit Stift und Papier.
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