Zu Harrys und Sallys Leidwesen stieg er dann in Crow Williams Band ein. Damals hatte Crow sich schon im Dingwalls etabliert, doch er akzeptierte die Tatsache, dass Walters Charisma und Talent die Gruppe nach vorn bringen würde. Crow wollte nicht als Frontmann auftreten und benannte die neu ausgerichtete Formation in „Walter and His Famous Stand“ um.
Während ich im Haus der Watts wohnte, wurde ich eine Zeitlang aus der Bahn geworfen. Mit dem Heroinkonsum aufzuhören zählt nicht zu den schwierigsten Herausforderungen, zumindest nicht, was mich anbelangt. Schwierig ist der Umgang mit dem bedrängenden kreativen Impuls.
Ich erzählte bereits, dass ich den Kids von den außergewöhnlichen Bildern berichtete, die ich sehen konnte, doch nun tauchten sie unwillkürlich in meinem täglichen Leben auf. Eines Tages, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann das war, entschloss ich mich, davon runterzukommen. Da erst erkannte ich, warum so viele Süchtige nicht clean bleiben. Es sind nicht das Elend und die Qualen des Entzugs, die dich dazu antreiben, wieder draufzukommen, es sind die enorme Last und Tragweite des Gefühls, nur ein ganz normaler Mensch zu sein, der den Alltag durchsteht. Die Visionen am Kopfende des Bettes, die Pamela so irritierten, begannen nun, alles zu „überschwemmen“, was ich intensiv betrachtete. In jeder Holzmaserung erkannte ich Gesichter verschiedener göttlicher Inkarnationen, von Heilsverkündern und anderen himmlischen Botschaftern. Mich beschlich das Gefühl, als gäben sie mir Hinweise, Signale und Zeichen, dass ich mich auf dem richtigen Pfad befände, dass ich in Kontakt mit einem spirituellen Mechanismus stünde, der meine Seele befreite. Diese „empfangenen“ Bilder stellten für mich die Basis eines neuen Codes dar. Als die Monate ins Land zogen, steigerte sich meine Besessenheit. Ich veränderte mich, sah dieselben seligsprechenden oder schreienden Gesichter im Muster des Linoleums am Boden des Wartezimmers meines Arztes, in den Wolken am Himmel, im vom Feuer aufsteigenden Rauch oder in den Kräuselungen von fließendem Wasser.
Ich würde am liebsten den Versuch unternehmen, das, was danach geschah, zu erklären, wie ich nämlich meinen Weg zur geistigen Gesundung fand, aber das ist wirklich und wahrhaftig eine andere Geschichte. Auf eine bestimmte Art halfen mir Walter und Rain, obwohl sie noch kleine Kinder waren. Wie ich schon sagte, die beiden hörten mir zu. Ich machte mir Sorgen, sie möglicherweise verängstigt, in ihnen den schrecklichen Samen der Furcht eingepflanzt zu haben – das, was mit der Psyche geschieht, wenn sie zu viel Stress ausgesetzt wird, einem Trauma und einer rotblonden-verfickten-Nympho-Illoyalen. In meinem Fall „rutschte“ ich jedenfalls wieder in die Drogen ab, wie Süchtige das bezeichnen.
Sogar jetzt, wenn ich über diese Zeit schreibe, kehrt meine Wut zurück. Diese Kids haben mir geholfen. Meine eigene Geschichte ist mit der Walters eng verknüpft.
Belassen wir es dabei, denn nach einer Weile ging es mir wieder gut. Im Sommer 1995 war ich clean. Als Folge des Gesehenen und Durchlittenen hielt ich nach den Abweichungen und Anomalien in der Kunst Ausschau, den Verzerrungen und den Albträumen. Wäre ich ein Maler wie Munch, Van Gogh oder Dalí gewesen, hätten meine Erfahrungen und Visionen mein Leben bereichert. Aber ich bin kein Künstler und sah dennoch Geister. Ich erkannte eine neue Sprache in allen Aspekten der Natur, die zu mir vordrang und Gut und Böse aufzeigte sowie alle Nuancen und Schattierungen zwischen diesen Polen. Das Beste war jedoch, dass ich kurz danach die Outsiders entdeckte, die Artistes Bruts und am Ende das Gefühl hatte, alles sei vorherbestimmt gewesen.
Kapitel 3
Im Sommer 1996 war die Zeit gekommen, in der ich mit Andréevich ein offizielles Gespräch über unsere Geschäftsbeziehungen führen musste. Er, der Künstler. Ich, der Händler. Maud brachte ihn mit in mein Apartment. Schnell wurde klar, dass er Maud trotz der großen Liebe, die sie für Nik empfand, schrecklich zu irritieren und zu ärgern begann. Er war übernervös und fühlte sich unbehaglich, doch lächelte die ganze Zeit auf eine verträumte, unbeteiligte Art. Mittlerweile sah er viel älter als Maud aus. Seine langen, lockigen Haare, die sie einst als „golden“ beschrieb, sahen nun schmutzig aus. Die Sonne hatte seine Haut schrumpelig werden lassen. Er wirkte immer noch attraktiv, aber war deutlich kleiner als in meinen Vorstellungen. Doch Popstars aus der eigenen Jugend erscheinen immer anders, trifft man sie von Angesicht zu Angesicht. Sie sind oft kleiner oder größer, hässlicher oder sehen besser aus. Fotografien, Filme und das Fernsehen täuschen alle auf eine bestimmte Art und Weise. Ich sah nie einen Auftritt von ihm, kannte aber seine Platten. Er war älter geworden, schrumpfte geradezu und schien das absolute Zentrum seiner eigenen Welt zu sein.
„Sie mögen meine Werke?“ Er nahm eine seiner Holzkohlezeichnungen, nun wundervoll gerahmt und bereits an einen Sammler verkauft – zufälligerweise auch einen ehemaligen Rockstar, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. (Tatsächlich einer von Niks Zeitgenossen.)
„Sehr sogar, Nikolai“, schwärmte ich. „Was Sie in den Lakes gesehen haben, war höchst ungewöhnlich. Aber auch, wenn Sie nur die Bilder aus Ihrer Vorstellungswelt gezeichnet hätten, wäre Ihre Arbeit verblüffend.“
„Ich habe sie aber gesehen!“, brüllte er, jedoch nicht aggressiv. Er schrie eher glückselig auf: „Ein großer Engel, der den ganzen Himmel ausfüllte.“
„Ja, Liebling“, beruhigte ihn Maud. „Was du gesehen hast – das steht außer Frage.“
„Mein Pate Walter würde seine Anerkennung ausdrücken, das weiß ich.“ Ich wollte sie beide ablenken. „Er besitzt all ihre Alben.“
„Von unserem erstes Album wurden in den ersten sechs Monaten 45.000 Einheiten verkauft und in zehn Jahre beinahe eine Million: 977.649 Einheiten.“
„Erstaunlich, dass Sie sich daran erinnern können.“
„Unser zweites war noch erfolgreicher. Wir verkauften zwei Millionen und siebenhunderttausend –.“
Maud unterbrach ihn: „Bitte, Nikolai …“
„Du kannst mich nicht aufhalten“, keifte er. Er streckte den Kopf hoch und schaukelte von einer zur anderen Seite. Sie konnte ihn nicht stoppen, woraufhin er die exakten Umsatzzahlen jedes der zwölf Alben der Band vor seinem Auftritt in Joe Boyds Film aufzählte. Das dauerte fast zehn Minuten.
„Zuletzt“, gab er bekannt, endlich dem Ende nahe, „kam das von uns so benannte Album Hero Ground Zero auf den Markt, das den Song ‚Hero Ground Zero‘ enthielt, geschrieben für Joe Boyds Film, in dem ich als Nikolai Andréevich auftrat. Das verkaufte sich schlecht, weil ich die Band vor den Aufnahmen verlassen hatte und wir nicht tourten. Ungefähr 850.000 Einheiten nur. Es ist das einzige, für das ich keine exakten Zahlen habe.“
„Präzise genug!“ Ich musste lachen.
„Nein!“ Er drehte sich zu mir, wirkte sehr ernst. „Überhaupt nicht genau genug; Ich wünschte, ich hätte die exakten Zahlen.“
„Der Film änderte einiges für Sie“, bemerkte ich, ein nüchternes, faktisches Statement, das ihn abzulenken schien und wieder in die Gegenwart zurückholte.
„Ich sah all diese wunderschönen Erscheinungen“, meinte er, glücklich lächelnd. „Und ich war in der Lage, sie zu zeichnen. Ich zeichne sie jetzt. Sie verkaufen sie. Maud bekommt das Geld. Das läuft alles optimal. Ich bin sehr glücklich darüber.“
„Gut“, stimmte ich zu, dabei Maud musternd, die sich fürchterlich unwohl fühlte, vielleicht peinlich berührt davon, als was für ein Einfallspinsel ihr Mann erschien.
Nik bemerkte Mauds Ängstlichkeit und schreckte uns beide auf, als er wieder sprach. „Louis mag dich, Maud“, sagte er. „Das kann ich sehen. Ich bin nicht eifersüchtig.“
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