Diese tiefgreifende Vertrauenskrise in die Echtheit von Daten und deren Sicherheit im Netz, ließ den Hunger nach fälschungssicheren, nicht manipulierbaren Daten enorm steigen. Das führte dazu, dass die ursprüngliche Idee von Satoshi Nakamoto wie Phönix aus der Asche auferstand. Nun aber mit einem grundsätzlich veränderten Blickwinkel. Die Aufmerksamkeit richtete sich jetzt weniger auf die Bitcoins als auf die darunterliegende Blockchain‐Technologie. Schließlich war sie von ihrem Erfinder Nakamoto erschaffen worden, um fälschungssichere und korrekte Transaktionen von Computer zu Computer zu ermöglichen (Peer‐to‐Peer). Diese veränderte Perspektive brachte Erstaunliches zutage. Man erinnerte sich, dass diese Datenbank nicht bloß für virtuell erzeugtes Geld genutzt werden kann, sondern für Daten aller Art . Man erinnerte sich auch daran, dass die Blockchain‐Technologie vor Fälschungen sicher ist. Sind die eingestellten Daten korrekt, ist deren Integrität auf der Blockchain garantiert. Der Grund dafür ist einfach: Wenn ein Schwarm von Menschen jeweils mit Hilfe ihrer Computer bestätigt, dass die Daten aus dem mathematischen Block, der ihnen zugestellt wurde, echt ist, ist es für Manipulatoren schlichtweg unmöglich, alle Teilnehmer zu manipulieren. Die Echtheit wird also nicht von vertrauenswürdigen Einzelpersonen oder Institutionen – einem Notar oder einer Bank – bestätigt, sondern von vielen . Und bei jeder Transaktion wird sie erneut bestätigt. Damit bekommen die Daten die Qualität einer Urkunde, ohne dass die Informationen noch verbrieft werden müssen. Ein Schwarm, der sich dezentral auf Millionen von Computern verteilt. Das klingt irgendwie nach Schwarmintelligenz und ist es auch: Der Schwarm lässt sich nicht täuschen; zumal alle Daten dauerhaft und konsistent dokumentiert sind und diese Wahrheit dezentral organisiert ist. Ein Zentrum kann man angreifen, hacken, zerstören, ausradieren. Die Vielen nicht. Wenn die Wahrheit auf so vielen Computern zu finden ist, ist Manipulation nutzlos. Der Mathematiker und Kryptograph Professor Rüdiger Weis bestätigt, dass es in absehbarer Zeit mathematisch nicht möglich sei, die digitalen Ketten zu sprengen. 90 Selbst Quantencomputer, an denen nicht nur Google arbeitet, seien noch lange nicht in der Lage, das Blockchain‐System zu knacken, sagt auch Bitcoin‐Entwickler Peter Todd. 91 Klar ist aber auch, dass dies irgendwann der Fall sein wird. Deswegen muss die technologische Entwicklung jeweils Schritt halten. Sicherheitsfragen können nie eine letzte Antwort haben.
Blockchain soll die Industriedaten schützen
Angesichts des derzeitig massiven Datenklaus und der alltäglichen Datenmanipulation brauchen wir dringend eine Technologie, die uns vor dem unbefugten Zugriff auf unsere Daten schützt. Vor allem die Unternehmen in Europa. Professor Weis bringt die derzeitige Situation mit viel Sarkasmus auf den Punkt, wenn er sagt, dass derjenige, der unverschlüsselt kommuniziere, auch gleich seine Daten an die ausländischen Geheimdienste schicken könne. 92 Kein Wunder, dass der Handlungsdruck für die Unternehmen enorm ist. Aber noch aus einem anderen Grund muss dringend etwas gegen den Datenklau getan werden. Daten, deren Authentizität zweifelhaft ist, bedrohen die moderne Gesellschaft, deren Getriebe ins Stottern gerät, wenn nicht mehr vertraut werden kann, weil so viel Fake im Umlauf ist. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die Wirtschaft. Der weltweite Handel braucht verlässliche Zahlen und Fakten. Sonst lassen sich keine Geschäfte machen. Zwar sind die privaten Daten vor dem Zugriff der riesigen US‐Datenkraken schon seit geraumer Zeit nicht sicher, dieser Kampf ist verloren, für den Schutz unserer Industriedaten aber lohnt es zu kämpfen. Blockchain könnte dabei eine große Rolle spielen. Denn die Technologie macht nicht nur die Daten erheblich sicherer, sie kann auch deren Echtheit garantieren. Wenn die Anfangsdaten korrekt sind, bleiben sie es auch auf der Blockchain. Niemand kann sie noch manipulieren. Diese Daten sind wahr . Wie es um die Wahrheit bestellt ist, ist zudem für jeden der Geschäftsteilnehmer zu jeder Zeit einsehbar. Wer aber die Wahrheit hat, braucht kein Vertrauen. Das Wissen um die Integrität der Daten ersetzt das Vertrauen. Das ist radikal neu . Das hat es so noch nie gegeben. Vor allem nicht in der Wirtschaft. Es ist nicht übertrieben, dies einen historischen Umbruch zu nennen.
»Wer die Wahrheit hat, braucht kein Vertrauen . Das Wissen um die Integrität der Daten auf der Blockchain ersetzt das Vertrauen.«
Im Unterschied zum institutionellen Vertrauen des modernen Menschen, der generell darauf vertrauen muss, dass das System Wirtschaft funktioniert und ihm die Waren und Dienstleistungen bietet, die er braucht – selbst in Corona‐Zeiten –, war Handel treiben ohne Vertrauen noch nie möglich. Doch das Vertrauen ist von anderer Art. Dieses Vertrauen war immer ein persönliches Vertrauen. Eins von Mensch zu Mensch. Nicht umsonst formulierte einst der amerikanische Öl‐Tycoon Jean Paul Getty jene Worte, die zum geflügelten Sprichwort wurden: Wenn man einem Menschen trauen kann, erübrigt sich ein Vertrag. Wenn man ihm nicht trauen kann, ist ein Vertrag nutzlos. 93 Das Gleiche drückt das Kaufmannsehrenwort aus, dass in den Hansestädten immer so wichtig war und ohne jenes die Hansestädte wohl nie so reich geworden wären. Vertrauen als Grundlage für Handel und Wirtschaft. Bis heute wird das Ehrenwort des Kaufmanns in Hamburg hochgehalten. 94 Ein Wort, ein Mann und ein millionenschweres Geschäft wird mit bloßem Handschlag besiegelt. 95 Dieses persönliche Vertrauen ist essenziell. Schließlich kann beim Geschäftemachen eine Menge schiefgehen: Die Ware kommt nicht oder wird nicht pünktlich geliefert, sie hat nicht die Qualität oder Quantität, die vereinbart wurde, das Geld wird nicht zum vereinbarten Zeitpunkt überwiesen oder im schlimmsten Fall bleibt die Zahlung ganz aus. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem, was alles nicht funktionieren kann. Mit verheerenden Folgen für den, der dem Falschen vertraut hat. Und weil sich das nie geändert hat, gibt es in jeder Kultur regelrechte Zeremonien des Vertrauensaufbaus: Eine Empfehlung öffnet die Tür, man geht miteinander essen, beobachtet den Geschmack und die Manieren seines Gegenübers, tastet im Gespräch einander vorsichtig ab, ist Gastgeber und baut langjährige Geschäftsfreundschaften auf. Man beginnt mit einem kleineren Geschäft, um zu testen, ob es klappt, und weitet sodann schrittweise den Handel miteinander aus. Das hat sich seit dem Altertum bis heute nicht geändert, weil es nie Ersatz für dieses Vertrauen gab. Doch dieses Vertrauen, das im Grunde genommen eine Wette auf die Zukunft ist, ein Vorschuss, bei dem man nie wissen kann, ob er sich auszahlt, weil man in den Kopf des anderen nicht hineinschauen kann, braucht man nun nicht mehr. Dieser seit Beginn der Menschheit praktizierte Vertrauensvorschuss im Handel mit seinem hochkomplizierten Beziehungsgeflecht kann in naher Zukunft im internationalen Warenverkehr zu den Akten gelegt werden. Wie kann das sein? Die Frage ist rasch beantwortet. Weil die Daten, die über die Ware präzise Auskunft geben, auf der Blockchain fälschungssicher gespeichert und für die Zugriffsberechtigten jederzeit einsehbar sind. Jeder, der an einem Geschäft beteiligt ist, das über Blockchain abgewickelt wird, kann in wenigen Sekunden in Echtzeit erkennen, wie viel Ware vorhanden ist, welche Qualität sie hat, was sie kostet, wo sie sich befindet und wem sie gehört. 96 Wer braucht da noch Vertrauen?
Vertrauen wird durch Wissen ersetzt
Was diese nahezu tektonische Verschiebung in der Wirtschaft bedeutet, welche Fragen dabei noch ungelöst sind und wie die Suche nach Antworten auf Hochtouren läuft, wird in den folgenden Kapiteln dargestellt. Was allerdings mit einer modernen Gesellschaft geschieht, deren Grundpfeiler auf dem Vertrauen fußt und dieses Vertrauen in vielen Bereichen nun überflüssig wird, können wir noch gar nicht abschätzen. Wir wissen noch nicht, was es für eine Gesellschaft bedeutet, vom Vertrauen zum Wissen zu wechseln . Es wird vielleicht sogar noch grundsätzlicher sein als das, was momentan durch die Digitalisierung in der Wirtschaft geschieht, weil es eben das ganze System der Moderne erfasst. Dieser Sprung in eine echte Wissensgesellschaft, die das Vertrauen nicht mehr braucht, weil sie die Wahrheit kennt , wird sich jedoch nur dann realisieren, wenn zu der Erfindung und dem Hunger nach fälschungssicheren und wahren Daten noch etwas hinzukommt. Es braucht den entscheidenden Treiber, der die Entwicklung voranbringt. Dieser Treiber sorgt dafür, dass sich die neue Technologie weltweit verbreitet und etabliert . Ohne einen solchen Treiber bleiben die technologischen Erfindungen aufregende Ideen, an die sich aber bald schon niemand mehr erinnern wird. Sie geraten einfach in Vergessenheit, weil kaum jemand sie nutzt. Wenn aber eine Industrie mit enorm viel Marktmacht sich dieser Erfindung annimmt, kommt es zum Durchbruch am Markt. Diese Rolle fällt der Chemieindustrie zu. Das mag einige überraschen, weil viele die Chemieindustrie gar nicht auf dem Schirm haben, schauen die meisten doch beim Thema disruptive Technologien in Richtung Silicon Valley oder Finanzindustrie, die das Thema Blockchain bisher vorangetrieben hat. Die Chemieindustrie hat jedoch ein Pfund, mit dem sie wuchern kann. Als eine der ganz wenigen Industrien ist sie mit der gesamten produzierenden Industrie vernetzt, sie steht mit ihren Produkten am Anfang vieler Lieferketten – und zwar weltweit. Wenn ein solcher Player mit ins Spiel kommt und die Blockchain‐Technologie in das Herz seiner globalen IT‐Prozesse einpflanzt, dann wird es ernst. Denn die Geschäftspartner und Kunden, die sich auf allen Kontinenten verteilen , müssen mitgehen . Genau diese Entscheidung ist in der Chemieindustrie gefallen. Drei der Blockchain‐Pilotprojekte werden in diesem Buch vorgestellt: Themis, Circularise PLASTICS und ReciChain. Namhafte Player der Branche sind dabei: BASF, Covestro, Evonik. Im Mittelpunkt der Pilotierungen steht die Frage, wie sicher und effizient die Warenprozesse und der Zahlungsverkehr auf der Blockchain durchgeführt werden können. Die bisherigen Ergebnisse sind so überzeugend, dass die Industrie in den Startlöchern steht. Die Europäische Kommission in Brüssel reagiert darauf und ebnet der Blockchain mit der European Blockchain Service Infrastructure (EBSI) 97 den Weg (siehe dazu Interview mit Pēteris Zilgalvis, Head of Unit, Digital Innovation and Blockchain EU‐Commission in Kapitel 6) . Fehlt nur noch das digitale Geld für die Zahlungsabwicklung auf der Blockchain (siehe dazu Kasten 2 in Kapitel 2, ›Hinter den Kulissen‘). Dann können die Lieferketten in gar nicht mehr so ferner Zukunft vollautomatisch ablaufen. Da trifft es sich gut, dass die Europäische Zentralbank seit Oktober 2020 den Einsatz des digitalen Euros in einem Pilotprojekt testet. Wenn dieser Probelauf positiv ausfallen sollte, und davon ist auszugehen, steht dem flächendeckenden Einsatz dieser bahnbrechenden Technologie nichts mehr im Weg.
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