Herausfordernd ist die Blockchain noch in anderer Hinsicht, denn in dem Wettrennen der Systeme, das in den letzten Jahren wesentlich zwischen den USA und China ausgetragen wurde, bietet die Blockchain für Europa die Möglichkeit, sich als Global Player erneut ins Spiel zu bringen und zugleich die eigenen Industriedaten und die Daten seiner Bürger vor dem Datenabgriff durch amerikanische und chinesische Unternehmen, aber auch vor Wirtschaftsspionage fremder Staaten zu schützen. Denn die Blockchain, deren innovative Anwendungen momentan im Wesentlichen in Deutschland entwickelt werden, wird eine weltweite Nachfrage nach diesen Assets erzeugen. Die Blockchain bietet zudem erheblich mehr Sicherheit. Angesichts der rasanten, aber auch bedrohlichen Entwicklungen im Internet ist das ein wichtiges Thema. Die Europäische Kommission will dieser bahnbrechenden Technologie mit der Europäischen Blockchain Infrastruktur (EBSI) den Weg ebnen. Dabei sind der Schutz unserer europäischen Daten, die Entwicklung neuer digitaler Standards, die definieren, wie in Zukunft im weltweiten Handel miteinander agiert wird, sowie die Möglichkeit, durch die Blockchain demokratische Werte zu stärken, Themen, die zeigen, dass die Blockhain politische Implikationen hat, die ähnlich disruptiv sind wie die in der Wirtschaft. Dazu sei Ihnen das wegweisende Interview mit Pēteris Zilgalvis von der EU‐Kommission in Kapitel 6 empfohlen.
Die Änderungen, die mit der Blockchain einhergehen, sind derart grundlegend, dass ein Vergleich mit der Erfindung des Buchdrucks nicht übertrieben ist. Wir befinden uns am Vorabend einer neuen Ordnung und es ist ein Privileg, diesen spannenden Wandel gestalten zu dürfen. Wir in der Chemieindustrie werden das tun. Im Einvernehmen mit den Partnern in Europa und anderswo.
Ute Wolf, Finanzvorstand Evonik
1 Vom Vertrauen zum Wissen durch Blockchain
Vertrauen ist eine riskante Erfindung der Moderne. Das behauptet die Berliner Forscherin Ute Frevert, die sich in einem großen Forschungsprojekt des Max‐Planck‐Institutes für Bildungsforschung seit vielen Jahren als Historikerin mit dem Thema Gefühle westlicher Gesellschaften und deren Veränderung auseinandersetzt. 1 Die renommierte Wissenschaftlerin spricht sogar von einer regelrechten Obsession für das Vertrauen . 2 Diese Aussage überrascht. Ist es nicht vielmehr so, dass die Menschen schon immer einander vertraut haben? Warum sollte das Ausdruck einer Besessenheit sein? Ohne Vertrauen kann eine Gesellschaft schließlich nicht funktionieren. Wir gehen morgens aus dem Haus und vertrauen darauf, dass unser Auto in der Werkstatt repariert wurde und wir mit ihm sicher fahren können. Wir vertrauen darauf, dass das Essen in der Kantine nicht vergiftet ist, dass die Polizei kommt und uns hilft, wenn wir sie brauchen. Wir vertrauen den Ärzten, wenn wir ihren Rat suchen, und vertrauen unsere Kinder der Kindergärtnerin an. Wird dieses Vertrauen erschüttert, funktioniert unsere Gesellschaft nicht mehr. Zumindest moderne Gesellschaften sind bei Vertrauensverlust in ihrem Kern getroffen. Denn moderne Gesellschaften sind hochkomplexe Gebilde, deren Komplexität geradezu zu Vertrauen zwingt . Das jedenfalls sagte einer der größten Soziologen der Moderne, Niklas Luhmann. 3 Selbst bestens ausgebildete Spezialisten, hochgebildete Akademiker müssen blind vertrauen, und zwar jeden Tag . Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Denn die vielen Teilsysteme einer Gesellschaft sind viel zu komplex, um sie für Laien – und das sind wir alle auf vielen Gebieten – transparent, verständlich und kontrollierbar zu machen. Die Antwort auf diese Ohnmacht des modernen Menschen lautet: Vertrauen haben . Diese immer überfordernde Komplexität moderner Gesellschaften wird durch Vertrauen in das Funktionieren der verschiedenen Teilsysteme wirkungsvoll reduziert und damit für Menschen wieder handhabbar. Würden wir alles misstrauisch beäugen, was uns umgibt, und alles kontrollieren müssen, wäre unsere Gesellschaft lahmgelegt. Wir können nicht den Kfz‐Mechaniker kontrollieren, ob er alles richtigmacht. Dafür fehlen uns Zeit und Kompetenz. Genauso wenig können wir dem Koch im Restaurant ständig auf die Finger schauen oder die Kindergärtnerin stundenlang mit gerunzelten Augenbrauen beobachten, ob sie unseren Filius optimal fördert. Wir sind also auf Vertrauen angewiesen .
Fehlt Vertrauen, droht der Kollaps
Stammesgesellschaften haben dieses Problem nicht. Da kennt jeder jeden und alle sind in die Kontrolle der Gruppe eingebunden. Vertrauen ist hier nicht notwendig. Vielmehr war das Misstrauen der Regelfall, zumindest gegenüber Fremden. Das jedenfalls hat Ute Frevert erforscht. 4 Das Wort ›Vertrauen‘ taucht in historischen Quellen nur im Zusammenhang mit Gott auf. Nur Gott allein schenkte man Vertrauen, vor allem in Krisen wie Hungerzeiten oder Epidemien. 5 Erst mit dem Beginn der Moderne im 17. und 18. Jahrhundert wird Vertrauen zum zentralen Thema. Das ist kein Zufall, denn diese Gesellschaft konnte sich nicht mehr auf Ständeordnungen und Traditionen und deren richtungsweisende Regeln verlassen. Davon hatte der Mensch sich gelöst. Zwar geht auch Frevert von einem angeborenen Grundvertrauen des Menschen aus, aber erst seit die Rechte und Interessen der Menschen durch Gesetz, Polizei und den Staat geschützt sind, wurde es leichter, auch Fremden zu vertrauen. 6 Erst der moderne Mensch konnte es sich erlauben, Vertrauen auch Unbekannten zu gewähren, ohne ökonomische Risiko‐Nutzen‐Abwägung. 7 Das Vertrauen in hochkomplexe Institutionen, das sich in der beginnenden modernen Gesellschaft nicht auf Tradition, sondern auf Funktion stützt, wird zur Pflicht oder genauer: zur Voraussetzung einer modernen Gesellschaft . Dieses Vertrauen ist kein Vertrauen von Mensch zu Mensch, sondern ein Vertrauen in das Funktionieren von Systemen . Was es bedeutet, in einer modernen Gesellschaft Vertrauen zu verlieren, haben wir in dramatischer Weise erlebt, als die Finanzkrise 2008 über uns hereinbrach. Als Erstes ging die Investmentbank Lehman Brothers pleite. Das hatte niemand für möglich gehalten. Ein gewaltiger Dominoeffekt war die Folge. Plötzlich wollten sich die strauchelnden Banken untereinander kein Geld mehr leihen, tiefes Misstrauen machte sich in der Branche wie ein bösartig wucherndes Krebsgeschwür breit, der Geldfluss kam ins Stocken. Genau wie die Banken entzogen auch die Verbraucher ihren Hausbanken das Vertrauen. Politiker verloren ihr Vertrauen in die Seriosität und das Verantwortungsbewusstsein der Bankvorstände. Der damalige Wirtschaftsminister Peer Steinbrück fühlte sich nach eigenen Angaben bei den Verhandlungen mit den Banken oft so, als ob er »hinter die Fichte geführt werden sollte«. 8 Das Vertrauen in das Finanzsystem war komplett zusammengebrochen. Eine tiefgehende Vertrauenskrise. In einer modernen Gesellschaft bedeutet das: eine existenzielle Krise . Wer Vertrauen zerstört, zerstört die Hauptschlagader der modernen Gesellschaft. Es kostete vor allem den Steuerzahler Milliarden, inklusive größter Verluste bei Renten und Lebensversicherungen, diesen Vertrauensverlust einigermaßen wieder ins Lot zu bringen und damit den totalen Kollaps zu verhindern. Genau darauf, »too big to fail zu sein«, hatten die Finanzakrobaten gesetzt. Es hatte funktioniert. Bis heute mussten die Banken das geliehene Geld nicht zurückzahlen, wohingegen es für die Bankkunden nach wie vor selbstverständlich ist, ihre Kredite abzubezahlen. Kein Wunder also, dass auf Seiten des Verbrauchers bis heute das Misstrauen geblieben ist, zumal die Krise nach wie vor nicht behoben ist, solange die faulen Kredite im Markt sind. Und das sind sie noch immer. 9 So dramatisch die Finanzkrise auch von allen empfunden wurde, so war sie trotz allem nur der Beinahezusammenbruch eines Teilsystems der Gesellschaft, des Finanzsektors, wenn auch mit heftigsten Auswirkungen auf die Wirtschaft. Doch dieses Erlebnis führte eindringlich vor Augen, wie essenziell das Vertrauen in einer modernen Gesellschaft ist, vor allem in der Wirtschaft. Vertrauen ist das Schmiermittel, das dafür sorgt, dass das Getriebe einer Gesellschaft reibungslos funktioniert, vergleichbar mit dem Motorenöl, das den Automotor am Laufen hält.
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