Erst als er frisch geduscht aus dem Bad kam, trat er hinter seine Frau und hauchte ihr einen Kuss auf ihre braunen Locken. »Na, wie war dein Tag?«
»Nichts Besonderes«, erwiderte Monika und fragte nun ihrerseits: »Und du, bist fertig geworden mit dem Flitzer?«
»Das schon«, antwortete Christian und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Aber? Da ist doch noch was«, drängte Monika, die schon am Tonfall bemerkt hatte, dass es heute etwas Ungewöhnliches gab, das er bisher nicht gesagt hatte.
»Lass uns erst essen, danach ist genug Zeit.« Im Moment konnte Christian verstehen, warum Carola vorhin so lange gebraucht hatte, ehe sie zum Punkt gekommen war. Der Tod war immer noch ein Tabuthema, niemand sprach gerne darüber.
Erst als sie gegessen und das Geschirr abgeräumt hatten, nahm sich Christian ein Bier aus dem Kühlschrank und sah zu seiner Frau. »Magst auch eins?« Monika schüttelte den Kopf. »Ich hab noch ein Wasser. Aber nun sag schon, was heute los war!«
Er setzte sich ihr wieder gegenüber an den Tisch.
»Carola hat angerufen«, begann er zu berichten. Seine Frau unterbrach ihn nicht, bis er fortfuhr: »Mein Vater ist gestorben.«
Monika griff über den Tisch und drückte seine Hand.
»Das tut mir leid.« Es tat ihr wirklich leid, obwohl sie ihren Schwiegervater nie kennengelernt hatte. Aber wahrscheinlich war es auch gerade das, was ihr so leid tat. Immer hatte sie gehofft, dass sich Vater und Sohn versöhnen könnten. Doch nun war es definitiv zu spät. »Wirst du zur Beerdigung fahren?«
Christian nickte. »Ja, natürlich. Er ist und bleibt doch mein Vater. Und du kannst schon mal Urlaub beantragen für Anfang September, denn du kommst natürlich mit. Den genauen Termin wird mir Carola wohl
morgen sagen können, er wird eingeäschert und danach ist die Urnenbeisetzung.«
»Aha.« Monika musste das alles erst einmal sacken lassen. Hier in Bayern waren die Erdbestattungen üblich. So manch ein Katholik könnte den Gedanken daran, verbrannt zu werden, mit dem Fegefeuer vergleichen. Das wollte man sich doch lieber ersparen. Aber im protestantischen Sachsen-Anhalt wurde es wohl anders gesehen. Ihr Mann war ja nicht mal evangelisch getauft, er war ein Heidenkind, von Staats wegen angeordnet in der DDR, von der sie überhaupt keine Ahnung hatte, bis Christian hier aufgetaucht war. Irgendwie hatten sie sich gefunden, es hatte gefunkt zwischen dem Zugezogenen und der Geschiedenen, beide mit einem Makel behaftet. Was hinter ihm lag, hatte sie erst viel später erfahren. Noch heute machte das ihr manchmal Angst, doch nach bald fünfzehn Jahren guter Ehe kam es nur noch selten vor.
»Was meinst du«, unterbrach Christian die aufkommende Stille, »ob Victoria uns begleiten möchte?« Seine Frau sah ihn mit skeptischem Blick an. »Ich denke, eher nicht. Und ganz ehrlich, was soll sie denn bei einer Beisetzung von einem Menschen, den sie nicht kannte und der nichts von ihr wusste? Er hätte ihr Opa sein können, aber dem standen wohl zwei Sturköpfe im Wege.« Sie hatte oft versucht, ihren Mann zu überzeugen, endlich den alten Streit beizulegen und auf seinen Vater zuzugehen. Nun war es zu spät.
»Du hast Recht«, stimmte Christian ihr zu. »Wir müssen sie nicht mit unserem Kram, der ja eigentlich mein Kram ist, behelligen.«
Christian liebte seine Stieftochter sehr. Er hatte sie als Kind kennengelernt und das Heranwachsen der jungen Frau miterlebt. Etwas, was ihm bei seiner eigenen Tochter verwehrt geblieben war. Und wenn er selbstkritisch in sich hineinhorchte, musste er seine Exfrau verstehen. So, wie er sich damals aus dem Staub gemacht hatte, das konnte man nicht die feine englische Art nennen.
Victoria war inzwischen erwachsen und lebte in einer eigenen kleinen Wohnung in Regensburg, wo sie ihr Geld, mit dem Geld anderer Leute, als Finanzberaterin bei der Sparkasse verdiente. Auch seine Tochter Ines lebte inzwischen in Bayern, allerdings in der Landeshauptstadt.
Er konnte wirklich zufrieden sein mit seiner Familie und seinem Leben. Wenn da nur nicht dieses Aber wäre. Inzwischen ging er auf die 60 zu. Das Rennfahren mit den historischen Formel-Wagen hatte er vor ein paar Jahren seinem Rücken zuliebe aufgegeben, doch von den Rennautos kam er nicht los. Wie gerne hätte er einem Kind seinen Lebenstraum übergeben. Doch weder Victoria noch seine Ines interessierten sich auch nur im Geringsten für Technik. Eines Tages
würde er sterben, so, wie sein Vater jetzt. Und dann? Der Gedanke war ihm unerträglich. Wenn wenigstens sein Neffe… Noch lebhaft erinnerte er sich an Carolas erste Schwangerschaft und die Geburt des kleinen Uwe. Eine Hoffnung, die schneller verging, als es sich alle versahen. Zwei Jahre später hatte ein zweites Kind, seine Nichte Uta, der Familie wieder Glück geschenkt, doch sein Traum erfüllte sich nicht.
»Komm, lass uns noch ein bisschen fernsehen. Vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken«, riss er sich selbst von der Vergangenheit los.
Bestätigend lächelte ihm Monika zu und ging mit ihrem Glas voran in Richtung Wohnzimmer. Es war normal, dass Christian etwas sentimental reagierte. Der Tod hatte etwas Endgültiges. Damit musste er sich erst einmal auseinandersetzenen.
2. Kapitel
Das Klappern von Geschirr in der Küche weckte Christian am nächsten Morgen. Monika war wie immer schon auf den Beinen. Schließlich musste sie pünktlich im Büro sein, während er sich den Luxus gönnte, auch mal etwas später mit der Arbeit zu beginnen.
Mit einem liebevollen »Guten Morgen!« begrüßte ihn Monika, als er in die Küche kam und goss ihm sogleich Kaffee ein. Sie selbst hatte sich schon ein Brötchen mit Butter bestrichen und reichte ihm den Brotkorb über den Tisch. Einen Moment aßen sie schweigend, bis Monika ihr Geschirr zusammenräumte, um sich für die Arbeit fertig zu machen.
»Schreibst du mir nachher, wann die Beisetzung ist«, bat sie ihren Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Natürlich, ich schicke dir gleich eine Nachricht, wenn sich Carola gemeldet hat.«
»Bis später dann.« Monika griff nach ihrer Tasche und zog im nächsten Moment schon die Tür hinter sich zu. Was für ein Wirbelwind, lächelte Christian in sich hinein und blickte ihr durch das Fenster hinterher, wie sie in ihrem leichten Sommerkleid zum Auto lief. Monika und er, das waren die sprichwörtlichen Gegensätze, die sich anzogen. Er der wortkarge Eigenbrötler, sie der Hansdampf in allen Gassen. Als sie sich kennenlernten, vor fast genau zwanzig Jahren arbeitete er erst ein Jahr in Bayern. Er reparierte noch bei einer Baufirma die Maschinen und versuchte gerade, auf einer schmalen Zufahrtsstraße einen Bagger wieder flott zu bekommen, der natürlich an der engsten Stelle seinen Geist aufgegeben hatte. Als er ölverschmiert unter dem Vehikel hervorkroch, stand sie plötzlich da, lässig an den Kotflügel ihres kleinen, roten Autos gelehnt. Lange braune Locken umrahmten ein lachendes Gesicht. Und als er seinen Blick über ihre Figur wandern ließ, da fand er, dass jede Rundung genau am rechten Fleck saß. Ihr Lächeln zu erwidern war alles, was ihm einfiel. Dafür hatte sie kein Problem, Worte zu finden.
»Des is grad net der beste Platz zum Parken!«, lästerte sie munter drauf los. »I müsst nämlich nach dort drüben.« Sie wies in Richtung des Weges, der aber in ganzer Breite vom Bagger blockiert wurde. »Dauert´s noch lang?«, zwang sie ihn nun durch ihre Frage zu einer Reaktion.
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