Isolde Martin
Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin
Imprint
Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin
Isolde Martin
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2014 Isolde Martin
ISBN 978-3-7375-0719-6
Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.netLektorat.Kinting@gmx.de
One's destination is never a place, but a new way of seeing things. (Das Ziel ist nie ein Ort, sondern eine neue Art, die Dinge zu sehen — Übers. d. Autorin.)
Henry Miller
Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände.
Franz Grillparzer
Let your memory be your travel bag. (Lass deine Erinnerung dein Gepäck sein — Übers. d. Autorin.)
Alexander Solschenitsin
Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen
Johann Wolfgang von Goethe
… für meinen Mann, der gerne auf Berge klettert,
um die andere Seite zu sehen
… für meinen Sohn, der neugierig ist und
durchhalten kann
Es war spätnachmittags an einem Sonntag, einem kühlen Tag im Juni. Mein Partner und ich schlenderten die Maximilianstraße in östlicher Richtung entlang. Das mächtige Maximilianeum begrenzte dort den Horizont. Wir hatten Zeit die exquisiten, sündteuren Waren, die in den Schaufenstern für die Reichen und Schönen der Stadt München ausgestellt waren, ausgiebig zu bestaunen. Leicht dahingesagte Kommentare, gewürzt mit etwas Sarkasmus über die Dinge, die wir sahen, flogen zwischen uns hin und her.
Wir kamen langsam zu meiner Haltestelle, von wo aus ich mit der Straßenbahn nach Hause fahren wollte. Ein weiteres Wochenende, gefüllt mit vielen Gesprächen, viel Lachen und Fröhlichkeit, ging zu Ende. Morgen würde ein gewöhnlicher, vertrauter Arbeitstag sein.
Für kurze Zeit schwiegen wir beide. Dann, in lässiger Manier, fragte er: "Vor einiger Zeit habe ich ein Visum für Australien beantragt. Kommst du mit?"
Ein paar Jahre später, als wir uns an den Anfang unseres gemeinsamen Lebens erinnerten, sagte er mir, dass ich prompt geantwortet hätte: "Ja, warum nicht?"
Ich bin mir sicher, dass ihn seine Erinnerung nicht trog, denn immer wieder versicherte er, dass es ihn, ob dieser leicht und sofort folgenden Antwort, beinahe umgehauen hätte.
"Hast du gewusst, auf was du dich da einlässt?", fragte mein Mann nahezu jedes Mal, wenn wir auf diesen schicksalhaften Tag und seine Frage zurückblickten, denn diese Antwort von mir hat mein Leben auf eine Weise verändert, wie ich sie mir nicht in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können.
Meine Antwort auf diese Frage blieb für Jahre die gleiche: "Ja, ich war mir bewusst. Deine Schülerin, der du in der englischen Sprache Nachhilfeunterricht gabst, hatte mich über deine Absichten informiert. Sie wusste von deinem abenteuerlichen Plan, nach Australien weiterzuziehen. Somit wartete ich ab, ob du mich informieren, ob du dich verabschieden oder mich einladen würdest. Auf letztere Möglichkeit konnte ich mich daher gut vorbereiten. Es war kein Zweifel, dass ich beides wollte, bei dir bleiben und mit dir dieses ferne Land sehen. Weiter dachte ich nicht, denn ich fühlte mich sicher mit dir. Eigentlich hatte ich geradezu unverhältnismäßig starkes Vertrauen in dich, ein Amerikaner, von dem ich nur wusste, was du und deine deutschen Freunde mir erzählt haben."
Später, als unser gemeinsames Leben sich gestaltet hatte, musste ich allerdings meine Überzeugung, dass ich wusste, auf was ich mich einließ, mehr und mehr revidieren. Nach drei Jahrzehnten erkannte ich, dass mein damaliges Statement nur für ein Jahr Gültigkeit hatte. Weiterhin hatte ich eigentlich keine rechte Vorstellung. Im Hintergrund meiner Gedanken hatte ich doch geplant wieder nach Deutschland zurückzukehren. Aber dann … wie weit kann ein Mensch seine Zukunft voraussagen?
Viel Mut brauchte ich, meiner Mutter zu sagen, dass ich das Heim verlassen und nicht nur in die nächste Stadt ziehen wollte, sondern — aus ihrer Sicht — in eine schier unerreichbare Ferne. Ich wollte ihr Einverständnis, Verständnis und ihre guten Wünsche. Damals sah ich alles von dem Blickpunkt einer Tochter. Als ich selbst Mutter geworden war, konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen. Manchmal fühle ich immer noch wie ich denke, dass ihr Schmerz gewesen sein muss. Ich ging nicht nur weit weg, sondern auch noch mit einem Mann, den sie kaum kannte. Ich beruhigte und rechtfertigte mich damals mit dem Gedanken, dass ich sie in den Händen ihres Sohnes und seiner Frau zurückließ. Jahre später gestand sie, dass sie nachts immer geweint hatte, um mir am Tag ein zuversichtliches Gesicht zu zeigen. Sie wusste, dass sie mich ziehen lassen und ich das tun musste, einfach weil ich jung war. Aber sie wollte mehr über diesen Mann, mit dem ich liiert war, wissen. Nachdem sie ihn einige Male getroffen hatte, schien sie beruhigt. Er war der erste Amerikaner, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg persönlich kennenlernte. Immerhin hatten seine Landsleute am Ende dieses Krieges ihre Wohnung besetzt und sie mit ihren beiden kleinen Kindern im Winter auf die Straße geworfen. Als mein eigener Sohn unser Haus verlassen musste, um auf einem anderen Kontinent auf die Universität zu gehen, erinnerte ich mich an meine Mutter. Die Lektion über selbstlose Mutterschaft, die sie mir wortlos erteilt hatte, wandte ich nun selbst an — zumindest versuchte ich es.
Meine Familie auf dem Bauernhof — drei Onkels und meine Cousine — hatten jedoch keinerlei Hemmungen. Sie ließen mich ihre Einstellung zu meinem Unternehmen schonungslos wissen: "Nach Australien? Was machst du denn dort? Glaubst du, es ist dort besser als bei uns?" Aber der Onkel, dem ich immer am nächsten stand, der für mich etwas Vaterersatz war, reagierte mit Ärger par excellence: "Warum gehst denn nicht gleich auf den Mond!"
Sonnenschein und angenehme Wärme schenkte uns der letzte Sommer in München. Ich führte meinen Partner zu all den schönen Plätzen von Stadt und Land, die er noch nicht gesehen hatte. Er sollte sich an meine Heimat durch meine Augen erinnern, nicht wie ein Tourist oder einer, der dort für ein kurzes Jahr gelebt, gearbeitet und zu wenig Zeit gehabt hat. Gleichzeitig aber betrachtete ich die schönen, geliebten Plätze Münchens mit Abschied im Sinn. Mein Geist hatte diesen Prozess des Scheidens schon begonnen. Bewusst versuchte ich genaue Bilder in meiner Erinnerung zu speichern. Trotzdem verstand ich meinen Wechsel nach Australien nicht als Auswanderung. Der fünfte Kontinent und das Leben dort interessierten mich schon seit langer Zeit. Es begann mit einem Buch über ein Känguru, welches mir meine Mutter einmal gab, als ich noch ein Kind war. Es war ein Ort mit ungewöhnlicher Flora und Fauna, ein Land, das von Pionieren besiedelt wurde.
Über die Dauer unseres Aufenthaltes dort hatte ich mir nicht viele Gedanken gemacht. Aber es war keine Frage, dass wir zur richtigen Zeit das Land wieder verlassen würden. Als mein Freund mich vor unserer Abreise einmal aufforderte jedes deutschsprachige Buch zu lesen, für das ich Zeit fand, "denn es könnte sein, dass du nicht zurückkommst", maß ich seinen Worten nicht viel Bedeutung bei. Das hätte ich jedoch tun sollen. Aber mein inneres Ohr hörte den Vorschlag, der in dieser Aufforderung enthalten war, nicht.
Er hatte mich auch gefragt, ob ich einen Ring wollte. Ich nahm an, dass er mir die Möglichkeit anbot, nicht allzu unverheiratet auszusehen in diesem fremden Land. Nichtsdestotrotz wurde er mein Verlobter, ohne das sichtbare Zeichen dieses Zustandes.
Mit dem 28. Oktober 1971 war der Tag, den ich gefürchtet aber auch herbeigesehnt hatte, gekommen. Meine Mutter kam mit uns zum Flughafen, wo uns zwei Freunde erwarteten. Ein ständiges Geplapper zwischen uns hielt unsere Gefühle in Schach.
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