Unbemerkt erscheint Jasper ein paar Minuten später mit verweinten Augen am Frühstückstisch. Er trinkt nur ein paar Schlucke von seinem fast kalten Kakao.
Mittags kommt Anne gerade aus der Bäckerei nach Hause, als das Telefon klingelt.
„Hallo? Frau Schmidt? Hier ist Frau Rieck, Jaspers Klassenlehrerin. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“
„Oh nein!“, flüstert Anne. In der Bäckerei war heute der Teufel los. Das sagt sie immer, wenn die Kunden sich vier Stunden lang die Tür in die Hand geben. Jetzt möchte sie nur noch die Spülmaschine ausräumen, den Eintopf in die Mikrowelle stellen, ihre Kleidung für heute Abend herauslegen und sich dann einen Moment hinlegen. Diesen Luxus gönnt sie sich nur an den Tagen, an denen der Kegelabend stattfindet. Das Telefonat stört sie einfach. „Wenn es nicht zu lange dauert, Frau Rieck.“ Anne bemerkt das kurze Zögern auf der anderen Seite. Hat die Lehrerin ihr spontan geflüstertes Nein gehört? Unmöglich!
„Frau Schmidt, es ist wirklich wichtig. Jaspers Schulleistungen haben rapide nachgelassen, in allen Fächern und er beteiligt sich überhaupt nicht mehr am Unterricht. Es ist auch ganz untypisch für ihn, dass er seine Hausaufgaben nicht mehr erledigt.“
Anne versucht, die Lehrerin zu unterbrechen. „Frau Rieck!“
„Einen Moment bitte, Frau Schmidt, das ist ja noch nicht das Wichtigste. Jasper ist ständig so deprimiert, er macht einen richtig unglücklichen Eindruck auf mich. Ich habe schon mehrere Male vergeblich versucht, ein vertrauensvolles Gespräch mit Jasper zu führen. Er kann oder er will mir keinen Grund für seine Traurigkeit nennen, aber in seinen Aufsätzen gibt es so schrecklich düstere Andeutungen. Das macht mir richtig Angst.“
Anne stöhnt. „Ich weiß, ich weiß, er ist auch zu Hause deprimiert, sitzt nur noch in seinem Zimmer und liest … Er schwafelt sogar von Selbstmord, wenn ihm was nicht passt, so ein Quatsch!“
Frau Rieck ist fassungslos. „Wie furchtbar, Frau Schmidt! Was unternehmen Sie denn dagegen? Ich hoffe, Jasper ist in Behandlung, oder kann ich Ihnen mit einer guten Adresse für eine Therapie helfen?“
Anne schmunzelt. „Wieso denn? Das ist doch nur Gerede, vielleicht eine harmlose Phase, mehr nicht. Aber Jasper braucht bestimmt keine Behandlung.“
So schnell gibt Frau Rieck nicht auf, sie ist ernsthaft beunruhigt. „Frau Schmidt, was sagt denn Ihr Mann zu Jaspers Verhalten?“
Langsam verliert Anne die Geduld. „Er sieht es selbstverständlich haargenau so wie ich, Frau Rieck. Und jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Ich bin in Eile.“ Am anderen Ende der Leitung hört Anne hastiges Blättern.
„Frau Schmidt, können wir das nicht in den nächsten Tagen noch einmal persönlich besprechen, vielleicht sogar gemeinsam mit Jasper? Ich kann Ihnen auch verschiedene Termine anbieten. Bitte, Frau Schmidt, ich halte das für ein ernstes Problem.“
Anne sieht nervös zur Uhr. Gleich kommen schon Ina und Markus aus der Schule, dann hat sie keine Chance mehr, sich ein paar Minuten auf dem Sofa auszuruhen.
„Nein, Frau Rieck, danke, wirklich nicht nötig. Wiederhören.“
„Aber, Frau Schmidt!„
Das Klicken in der Leitung unterbricht den zaghaften Versuch der Lehrerin, Jasper zu helfen.
Zwei Monate früher
Jasper sitzt in seinem Zimmer und weint. In allen wichtigen Klassenarbeiten hat er mangelhaft abgeschnitten und weil er sich schämt, die Noten seinen Eltern verschwiegen. Seine ständig deprimierte Stimmung hat ihn in der Schule völlig isoliert.
Seine Mitschüler lassen keine einzige Gelegenheit aus, Jaspers Vorliebe für Lyrik als Zielscheibe für Hohn und Spott zu nutzen. Vom traditionellen Tafelbild bis zu Facebook und Twitter sind ihnen alle Mittel recht, um ihn zu verletzen. Wenn er sich mit Horrorgeschichten oder Mystery-Romanen gut auskennen würde, das wär' immerhin cool… Die Mädchen zeigen da etwas mehr Toleranz. Im Sportunterricht kann er auch nicht glänzen, ganz im Gegenteil. Die anderen hänseln ihn grausam wegen seiner Unsportlichkeit und hier mischen auch die Mädchen völlig unbekümmert mit.
Zu Hause tratschen Anne und Thore alleine über Nachbarn und Arbeitskollegen, als Eltern hören sie Ina und Markus aufmerksam zu, wenn sie umständlich versuchen, kleine Anekdoten aus der Schule zu erzählen und gemeinsam lachen sie ausgelassen.
Ausgiebig prahlt Markus mit kleinen Trainingsfortschritten und Ina wünscht sich sehnlich Musikunterricht. Nur fällt es ihr schwer, sich für ein Instrument zu entscheiden. Bisher weigert sie sich beharrlich, dem Rat der Musikschule zu folgen und mit einer Blockflöte zu beginnen.
Demnächst wird Thore befördert und er kann sein Glück kaum fassen, nur Anne hat Sorgen.
Ihr Arbeitsplatz fällt eventuell einer Rationalisierungsmaßnahme zum Opfer. Doch sie zwingt sich zum Optimismus und sagt sich immer wieder: „Du bist eine Bäckereifachverkäuferin und du hast schon viele Jahre Berufserfahrung, ganz klar, du findest sofort wieder eine neue Stelle.“
Jeden Abend macht Thore ihr Mut, so gut er eben kann.
Jasper muss richtig leiden, er ist der Blitzableiter für alle. Es ist ganz einfach, sich über Jaspers Liebe zu Gedichten lustig zu machen und so reißt auch die Familie bösartige Witze. Doch immer häufiger ignorieren die Familienmitglieder ihn einfach in seiner Traurigkeit und Jasper fühlt sich so unsichtbar als trüge er eine Tarnkappe.
Viel Zeit verbringt er allein in seinem Zimmer und weint.
An einem Dienstag geht Jasper in der ersten, großen Pause von der Schule einfach nach Hause, ohne dass es jemand bemerkt.
Jasper schwänzt jetzt oft den Unterricht.
Auf dem Heimweg trödelt Jasper, in der Hand hält er einen Info-Brief an die Eltern, der detailliert Auskunft über eine mehrtägige Klassenreise gibt. Ernsthaft überlegt er, den Brief einfach verschwinden zu lassen. Das geht aber nicht, der Brief soll in drei Tagen von einem Elternteil unterschrieben, an Frau Rieck zurückgegeben werden. Diese Klassenreise empfindet Jasper als eine Katastrophe, er will unbedingt zu Hause bleiben und weiß nur nicht, wie er das anstellen soll. Er läuft immer langsamer.
„Na, du heulender Dichter? Freust du dich auch schon auf die Klassenfahrt?“ Tim, der beste Fußballspieler der Klasse, überholt ihn lachend auf dem Fahrrad. Ein kräftiger, schmerzhafter Tritt befördert Jasper vom Fußweg auf die Straße.
Die drei anderen Jungen, die Tim ständig begleiten, brüllen vor Lachen. Sie brennen schon darauf, Jasper Tag und Nacht schikanieren zu können.
Langsam schlurft Jasper zurück auf den Fußweg, Schmerzen zeigt er nicht, das macht alles nur schlimmer. Hektische rote Flecken breiten sich auf Gesicht und Hals aus.
Zu Hause legt er den Info-Brief einfach auf den Küchentisch und geht still nach oben in sein Zimmer. Zu melancholischer Musik legt er sich mit seinem liebsten Gedichtband aufs Bett.
Als Anne abgehetzt vom Einkaufen kommt, findet sie den Info-Brief. Sofort ruft sie nach oben: „Jasper? Kommst du mal runter?“ Minuten vergehen, während Anne die Lebensmittel verstaut. „Jasper! Wo bleibst du? Ich möchte mit dir reden.“ Endlich hört sie Schritte auf der Treppe. „Hallo, Jasper, ich hab' den Info-Brief gefunden. Ihr geht auf Klassenfahrt?“ Sie blickt flüchtig auf. „Du hast ja schon wieder geweint. Was ist denn los? Klassenfahrten sind doch toll.“
Jasper zögert, dann sagt er leise: „Ich möchte nicht mitfahren. Kann ich nicht solange in die Parallelklasse gehen? Ich helfe dir auch mehr im Haushalt.“
Irritiert sieht Anne ihren Sohn an. „Du gehst also freiwillig zum Unterricht, nur damit du nicht an der Klassenfahrt teilnehmen musst?“
Jasper nickt, Anne wird ärgerlich. „Weißt du eigentlich, dass deine Klassenlehrerin mich angerufen hat, weil du schwänzt?“
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