1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Die Abschiebung beeinträchtigter Menschen in Sondereinrichtungen war seit den 1960er Jahren das für fortschrittlich gehaltene gesellschaftspolitische Konzept. Es gipfelte 1970 im Aktionsprogramm der Bundesregierung, in dem ein gigantisches Sondersystem vorgestellt wurde: »über die Spezialeinrichtungen für bestimmte Behinderungsarten und die Ausbildungs- und Umschulungsstätten bis hin zu den Sonderkindergärten und Sonderschulen und den Werkstätten für Behinderte« (BT-Drs. 06/896, 1970, 16). Die Sonderarbeitswelt der Werkstätten war eine praktikable und politisch konfliktfreie Lösung, wenn auch eine sehr teure. Sie entsprach dem damals weit verbreiteten Zeitgeist und dem Menschenbild. Organisationen, die für sich in Anspruch nahmen, die Interessen behinderter Menschen zu vertreten, ernteten Lob im Bundestag für ihre aktive Mitarbeit an dieser abgeschlossenen Sonderwelt, voran die Bundesvereinigung Lebenshilfe. Sie war damals und ist bis heute die größte Trägerin der meisten Werkstätten. Der inzwischen beklagte Automatismus, mit dem behinderte Schulabgänger_innen in die »Werkstätten« verwiesen werden, galt dem Bundestag damals als anerkennenswert: »Die intensive Arbeit der Lebenshilfe und die Entwicklung der Sonderschulen haben eine große Zahl geistig behinderter Kinder vorbereitet, so dass sie nunmehr in […] Beschützenden Werkstätten aufgenommen werden können« (PlPrt. 06/64, 1970, 3524D).
Dieses Konzept ließ sich politisch gut und erfolgreich öffentlich präsentieren: Die politisch Verantwortlichen redeten nicht nur, sondern handelten; sogar die Opposition beteiligte sich. Jede neue Regierung setzte diese Politik der Absonderung fort. Mit großem Engagement unterstützten die Nicht-Regierungsorganisationen den separierenden Sonderweg, wurden dabei Großeigentümer eines gewaltigen Immobilienvermögens und Großunternehmer mit zehntausenden von Angestellten. Die Arbeitswelt jedoch, in die die behinderten Menschen geschickt wurden, war nicht die übliche Erwerbswelt. Es war die abgeschiedene, benachteiligende Sonderwelt der »Werkstätten« nach dem gesellschaftlichen Vorbild der großen Anstalten des 19. Jahrhunderts. Gerade Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen blieben außerhalb des Blickfeldes der Bevölkerung. Übergänge aus den »Werkstätten« ins Erwerbsleben waren nicht vorgesehen. Die wurden erst 1996 zur Pflichtaufgabe der »Werkstatt«-Träger, 19 nach dem sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz jahrelang gegen die wachsenden Kosten des »Werkstätten«-Sektors gewehrt hatten. Statt der grundsätzlichen Öffnung des »Werkstätten«-Systems in die Gesellschaft und den allgemeinen Arbeitsmarkt gab und gibt es für die Öffentlichkeit immer wieder mal »Tage der offenen Tür« – als kurzweiliger »Event« zum Staunen. Und vorzugsweise zur Bestätigung, dass diese behinderten Menschen doch in die »Werkstätten« gehören.
Die deutsche Geschichte der Aussonderung wurde um ein neues, bundesdeutsches Kapitel erweitert. Die unserem demokratischen und sozialen Rechtsstaat angemessene Alternative wäre gerade zu Beginn der 1970er Jahre eine ganz andere gewesen. Immerhin gilt jenes Jahrzehnt bis heute als Zeit des Aufbruchs – und der Ernüchterung. 20 Die Absicht der Bundesregierung, »in zunehmendem Maße den Behinderten eine Teilnahme am Erwerbsleben (zu) ermöglichen« (BT-Drs. 06/2155, 1971, 210), schloss die behinderten Menschen in den Werkstätten nicht ein. Das wiederholte Regierungsziel, sich »auch den Personengruppen zuzuwenden, die sich aus unterschiedlichen Gründen Beschäftigungsschwierigkeiten gegenübersehen« (BT-Drs. 06/3432, 1972, 21), galt ebenfalls nicht für die in den »Werkstätten«. Dabei hatten schon in den 1970er Jahren Bundestagsabgeordnete darauf hingewiesen, dass nach »früherem Recht die Beschäftigungspflicht bereits bei Betrieben mit sieben Arbeitsplätzen eingesetzt« und die Pflichtquote 8 % betragen hatte (BT-Drs. 07/1515, 1974, 5). Dem Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes hätte es schon damals entsprochen, die Beschäftigungspflicht zu erweitern und konsequent durchzusetzen, statt sie einzuschränken. 21
2.4 Machtlose Gesetze: Absichtserklärungen statt Gestaltungskraft
Zu den noch immer ungelösten politischen Aufgaben gehören die Gestaltung eines aufnahmebereiten Arbeitsmarktes und die Öffnung der Erwerbswirtschaft ebenso für die Bevölkerungsteile mit besonderen Erschwernissen. Dabei besteht seit 1953 für die Erwerbswirtschaft die gesetzliche Pflicht, auch die »besonderen Gruppen Schwerbeschädigter« (§ 4 SchwBG, 1953) zu beschäftigen. Das sind Menschen mit einem größeren Assistenzbedarf. Diese gesetzliche Pflicht besteht nach wie vor. Sie ist im Zuge der Novellierungen des Schwerbehindertengesetzes von 1974 immer wieder zeitgemäß weiterentwickelt und konkretisiert worden. Heute wird diese Beschäftigungspflicht im § 155 SGB IX beschrieben. Danach haben die beschäftigungspflichtigen Unternehmen (§ 154 SGB IX) ganz ausdrücklich auch solche »schwerbehinderten Menschen« zu beschäftigten, »die nach Art oder Schwere ihrer Behinderung im Arbeitsleben besonders betroffen sind«. Das Gesetz nennt beispielhaft sechs bei ihrer Arbeitssuche sehr benachteiligte Personengruppen (§ 155 Abs. 1 SGB IX): behinderte Menschen, die
• im Arbeitsalltag nicht nur vorübergehend einer besonderen Hilfskraft bedürfen;
• vom Arbeitgeber nicht nur vorübergehend außergewöhnliche Aufwendungen erwarten können;
• nicht nur vorübergehend eine wesentlich verminderte Arbeitsleistung erbringen werden;
• eine mentale oder psychische Beeinträchtigung mit einem Grad von mindestens 50 haben;
• über keine abgeschlossene reguläre Berufsausbildung verfügen.
Ausdrücklich verlangt das Gesetz, aus diesen Gruppen auch jene einzustellen, die fünfzig Jahre und älter sind.
Ein großer Teil der leistungsberechtigten Menschen im sog. Arbeitsbereich der »Werkstätten« gehört zu diesen Gruppen. Fachleute sprechen von dreißig Prozent, andere sogar von fünfzig Prozent der Beschäftigten. Ihre Einstellung in reguläre Wirtschaftsunternehmen würde den Arbeitgebern u. a. damit honoriert, dass sie auf zwei und mehr Pflichtplätze angerechnet werden können. Dennoch gibt die Bundesagentur für Arbeit an, dass 2017 nur 71 der über eine Million Pflichtplätze in der Erwerbswirtschaft mit ehemaligen Beschäftigten aus »Werkstätten« besetzt waren. 22 Bei 289.842 Personen in den »Werkstätten« des gleichen Jahres entspricht das einer Vermittlungsquote von 0,245 Promille.
Eine politische Weichenstellung, die auf gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben ausgerichtet ist, würde ein so dichtes und überfülltes Netz von »Werkstätten« überflüssig machen. Deren rasante Zuwachsraten waren schon 1994 erkennbar, als die öffentliche und parlamentarische Diskussion über ein Benachteiligungsverbot ihren ersten Höhepunkt erreichte. Da hatten die »Werkstätten« gerade den neuen Rekord von 150.000 besetzten Arbeitsplätzen gebrochen. 23 Den nächsten Rekord verzeichneten sie nur sechs Jahre später mit bereits über 200.000 Beschäftigten. Auch deshalb wurde noch im gleichen Jahr aus der bisherigen verordnungsrechtlichen Pflicht eine gesetzliche: »den Übergang geeigneter Bewerber auf den allgemeinen Arbeitsmarkt […] zu fördern« (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 SchwbG 2000).
Doch der Misserfolg war und ist arbeitsmarktpolitisch vorprogrammiert. Es fehlt an wirksamen, den Arbeitsmarkt inklusiv gestaltenden Instrumenten. Außerdem gibt es nur wenige und recht schwache Initiativen der »Werkstätten«, ihre befähigten Beschäftigten ins Erwerbsleben wechseln zulassen. Denn am Verlust gerade der produktivsten Beschäftigten haben die »Werkstatt«-Träger kein Interesse. Auch die sog. ausgelagerten Arbeitsplätze in den Erwerbsbetrieben haben keine höheren Übergangsquoten bewirkt. Im Gegenteil: Die vom Gesetzgeber 2008 geschaffene Möglichkeit, solche Arbeitsplätze nicht nur als Übergangsmöglichkeit ins Erwerbsleben einzurichten, sondern als dauerhafte Arbeitsplätze, hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Seitdem wird diese Form der billigen Leiharbeit stärker als bisher genutzt. Statt dass sie als Sprungbrett in den allgemeinen Arbeitsmarkt dienen, sind es preisgünstige Leiharbeitsplätze – für »Werkstätten« wie für Arbeitgeber gleichermaßen attraktiv. Für die »Werkstätten« ist der Dienstleistungsaufwand für Beschäftigte auf ausgelagerten Arbeitsplätzen in der Regel sehr gering. Sie erhalten keinen regulären Lohn, sondern sind an das Niedrigstlohnsystem der »Werkstatt« gebunden. Diese besondere Art der Leiharbeit verhindert, dass die »Werkstatt«-Träger leistungsstarke Beschäftigte verlieren. Würden sie nach einer bestimmten Frist in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen, wäre das für die »Werkstätten« auch ein finanzieller Verlust: Ihnen zahlt der Entleiher einen Preis für die ausgeliehenen »Werkstatt«-Angehörigen.
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