»Lasst mich in Ruhe, ihr Säue!«, brüllte sie.
Pepe erkannte die Stimme der jungen Frau vom Spielplatz, wenn auch etwas verzerrt. Wie hieß sie nur gleich? Ingrid? Ingeborg? Isabella! Isa!
»Lasst sie in Ruhe, ihr Wichser! Ich reiße euch den Arsch auf!«
Wo kam der denn her? Wie ein Kugelblitz schoss plötzlich Isas Sohn aus dem Gebüsch. Er rannte zwischen den Männern hindurch und stürmte direkt auf Pawel zu. Er prallte von ihm ab, als wäre er gegen eine Litfaßsäule gelaufen, fing sich aber schnell. Nachdem er sich kurz geschüttelt hatte, trommelten seine kleinen Fäuste pausenlos auf den Oberschenkel des Großen ein.
»Hau ab, du Zwerg!«, schnauzte der unwirsch und verpasste dem Kleinen eine gewaltige Ohrfeige, sodass der sich einmal um sich selbst drehte und vom Bootssteg ins Wasser stürzte.
In drei Schritten war Pepe bei ihm und zerrte ihn ans Ufer. Über ihm brüllte Isa wie ein Tier und sprang auf Pawels Rücken. Sie klammerte sich mit ihren Schenkeln fest und kratzte und schlug ihm von hinten ins Gesicht.
»Du Schwanzlutscher! Du miese, verdreckte Kackbratze! Ich kratz dir die Augen aus, du dämlicher Polacke!«
Was war nur mit der freundlichen Isabella vom Nachmittag geschehen? Wie konnte sie sich in so kurzer Zeit von einer liebevollen Mutter in eine fluchende Furie verwandeln? Selbst bei dem schwachen Licht sah Pepe, dass sie sich auch äußerlich verändert hatte. Die Grübchen waren verschwunden, genau wie der Zopf. Stattdessen hingen ihr die Haare strähnig im Gesicht, verdeckten zornig zusammengekniffene Augen und gefletschte Zähne.
»Alles klar bei dir, Kleiner?«, fragte Pepe.
»Meine Wange tut weh. Und die Daumen«, antwortete Isas Sohn.
»Zeig mal.«
Pepe nahm die Finger des Kleinen in seine Hände, strich sanft darüber und bewegte jeden einzelnen.
»Tut das weh?«, fragte er.
»Es geht.«
Anscheinend war nichts gebrochen.
»Du darfst die Daumen nicht in die Faust stecken, wenn du zuschlägst.«
»Warum denn nicht?«
»Na weil du dir die dann brechen kannst.«
»Warum denn?«
»Erklär ich dir später. Ich werde mal besser nach deiner Mutter sehen.«
Über ihnen drehte sich Pawel wie ein rumänischer Zirkusbär und versuchte, Isa von seinem Rücken zu schleudern. Dabei schlug er mit beiden Händen hinter sich, doch Isabella blieb unbeeindruckt. Die anderen Männer standen um das Paar herum und krümmten sich vor Lachen.
»Holt sie endlich mal von mir runter, ihr Affen!«, rief Pawel und schlug Isa erneut mit der flachen Hand hinter sich ins Gesicht.
Viel Wucht war allerdings nicht dahinter, sodass die junge Frau weiter festhielt und ihm einen tiefen, blutenden Kratzer quer über die Wange verpasste.
Pepe war jetzt um den Steg herum und lief auf die Gruppe zu. Zwei von Pawels Kumpanen stellten sich ihm sofort in den Weg. Einer von ihnen war der mit dem lockeren Zahn.
»Das ist eine Privatparty«, empfing der ihn und deutete mit seinem Zeigefinger auf Pepe. Dabei zeigte sein Daumen nach oben, so wie Kinder mit ihren Händen eine Pistole nachahmen. Pepe schnappte sich blitzschnell den hochstehenden Daumen. Seine rechte Hand war vom vielen Motorradfahren außergewöhnlich kräftig. So schlossen sich seine Finger wie ein Schraubstock um den gegnerischen Pistolendaumen. Ein kräftiger Ruck und der fleischige Daumen wurde aus der Gelenkpfanne gehoben. Dann kurz und heftig gegen die natürliche Bewegungsrichtung biegen und fertig. Ausgekugelt.
Der Mann schrie auf, als hätte ihm Pepe den Daumen abgerissen. Er versuchte, Pepes Finger mit seiner freien Hand zu lösen, doch der hielt eisern fest und erhöhte den Druck. Die Augen des Mannes wurden immer größer, seine Schreie lauter. Und als er glaubte, es könnte nicht schlimmer werden, legte Pepe prompt eine Schippe drauf. Das folgende Schmerzensgeheul ließ sogar Pawel kurz innehalten und auch Isa schaute von seinem Rücken interessiert herüber. Nun machte der zweite Anstalten, einzugreifen und seinem Kumpel aus der Not zu helfen. Als Pepe kurz den Kopf schüttelte und seinen Gegner erneut aufschreien ließ, hob der jedoch entschuldigend die Hände und drückte sich auf dem schmalen Steg schnell an beiden vorbei. Seine polternden, rennenden Schritte hallten lange nach.
Pepe hatte derweil den Daumen weiterhin fest im Griff und führte den dazugehörigen, auf Zehenspitzen tänzelnden Mann bis an den Rand der Anlegebrücke. Er ließ den Finger zurück ins Gelenk schnappen. Die Bänder waren wahrscheinlich überdehnt und würden sich eventuell entzünden. Mit etwas Glück war die Kapsel heil geblieben. Sofort klappte der Mann vornüber und presste sich beide Hände wimmernd zwischen die Schenkel. Pepe tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und stieß ihn rückwärts ins Wasser. Jetzt waren noch Pawel mit Isa auf dem Rücken und zwei Hobby-Soldaten übrig. Alle vier starrten Pepe verdutzt an. Isabella war als Erste wieder bei sich. Sie ließ sich von Pawel heruntergleiten und lief rückwärts zu Pepe hinüber.
»So ihr Fotzen, jetzt versohlen wir euch den Arsch!«, brüllte sie und ballte ihre Fäuste.
Pepe sah sie von der Seite an. Was war denn mit der los? Sie schien eine komplett andere Person als heute Nachmittag zu sein. Auf jeden Fall hatte ihre Ansage die anderen ebenfalls aus ihrer Starre gerissen. Pawel schlug seinen Kumpanen auf deren Rücken und schob sie auf Pepe und Isa zu.
»Greift sie euch!«, stachelte er sie an, während er sich mit dem Handrücken Blut aus dem Gesicht wischte.
Die Männer waren nicht durchtrainiert, aber anscheinend war das hier nicht ihre erste Prügelei. Ein Straßenkampf unterschied sich grundlegend von einer zigfach durchgespielten Verteidigungs- oder Kampfsportübung. Erstens hielt sich niemand an irgendwelche Regeln und zweitens war unter keinen Umständen vorherzusehen, was im nächsten Augenblick passieren würde. Eine Sache war jedoch bei beidem gleich: Wer den Kampf eröffnete, war im ersten Moment im Vorteil. Also nahm Pepe die Fäuste hoch und fuchtelte wie ein Schattenboxer vor den Gesichtern seiner Gegner herum. Die schienen nicht zu wissen, was sie davon halten sollten und folgten Pepes Bewegungen wie die Zuschauer bei einem Tennismatch. Die Köpfe drehten sich nach links, nach rechts und wieder zurück und keiner der beiden achtete auf Pepes Füße. Er trug zwar keine Kampfstiefel, dafür hatten seine Motorradschuhe einen verstärkten Zehenbereich. Der traf mit voller Wucht das Schienbein des linken Burschen. Pepe war sich nicht sicher, ob er ein Knacken gehört hatte, konnte sich allerdings gut vorstellen, dass zumindest das Schienbein gebrochen war. Erst klappte der Unterkiefer des Mannes nach unten und er riss seine Augen so weit auf, dass zu befürchten stand, sie würden aus ihren Höhlen kullern. Dann schnellte sein verletztes Bein nach oben. Er umklammerte es mit beiden Händen und begann auf dem anderen zu hüpfen wie ein Storch zur Balz.
»Da hast du es!«, brüllte Isa, sprang nach vorn, griff sich beide Ohren des Hobby-Soldaten und warf sich zu Boden. Dabei riss sie den Mann mit sich. Er knallte mit dem Kiefer voran auf den Bootssteg, verdrehte die Augen und blieb bewusstlos liegen. Sofort hockte sich Isa auf seinen Rücken und drosch auf ihn ein wie ihr Sohn nur Minuten vorher auf Pawel. Das Ganze war so schnell geschehen, dass der Partner des Storches eine Schrecksekunde brauchte, um zu realisieren, was geschehen war. Die reichte Pepe aus. Er landete einen perfekten Lebertreffer. Neben dem Schmerz, den ein Leberhaken auslöste, war das plötzliche Abfallen des Blutdruckes ein gewünschter Nebeneffekt. Es funktionierte. Der Hobby-Soldat fing an zu taumeln und kippte anschließend urplötzlich vom Steg, als hätte ihm jemand für einen Seemannsköpfer ein kleines Vermögen geboten. Nur dass unter ihm kein Wasser war. Somit blieb nur Pawel, der Große, übrig.
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