Elisabeth Schulze-Witzenrath
Großstadt und dichterischer Enthusiasmus
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0050-2
für Joachim
Das vorliegende Buch geht von einem Problem der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts aus. Genauer gesagt von einem Problem der Lyrik, nämlich der Frage, welche Haltung die lyrische Dichtung in Zeiten der nachwirkenden Romantik und der Naturbegeisterung gegenüber dem neuen Phänomen des Lebens in der Großstadt einzunehmen habe. Diese Frage, die sich in ihrer Zuspitzung besonders in Frankreich mit seiner aufblühenden Metropole Paris stellte, ist ein Teil des großen Epochenumbruchs und der ästhetischen Wende des 19. Jahrhunderts. Sie hat ihre Antwort im Zuge der allgemeinen Klärung und Herausdifferenzierung des Selbstverständnisses der Kunst sowie der Auflösung und Angleichung der poetischen Genera gefunden.
Ende des 18. Jahrhunderts hatte, zunächst in England, die industrielle Revolution eingesetzt, die dank der Mechanisierung der Produktionsmittel den wirtschaftlichen Fortschritt beschleunigte und die Bevölkerung stark anwachsen ließ. Sie führte zu verdichteten Lebensräumen und zur Entstehung von Großstädten, der alsbald eine Verstädterung der Lebensformen folgte. Die erste europäische Großstadt internationalen Ansehens war London, das im 19. Jahrhundert bald von Paris überflügelt wurde, besonders seit dessen städtebaulicher Umgestaltung unter Napoleon III. durch den Präfekten Georges-Eugène Haussmann.
Schon im 18. Jahrhundert hatte der Journalist und Romancier Louis Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris (1781–1788) in mehr als 1000 Kapiteln seine Eindrücke aus dem Alltagsleben der Stadt Paris festgehalten. Im Rückgriff auf das Diderotsche Konzept des ‚tableau‘ als pathetischer Zusammenfassung eines ‚drame‘ wollte er die vielfältigen Sitten und Gebräuche der Stadt, ihre physische und moralische Physiognomie mit ihren Gegensätzen möglichst getreu aufzeichnen1. Nach diesem überaus erfolgreichen feuilletonistischen Beginn, dem bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts zahlreiche weitere tableaux-Sammlungen folgten, fand die Großstadt Paris bald auch Eingang in die schöne Literatur, allem voran in Balzacs Comédie humaine. Balzac hatte nach ersten Versuchen in unterschiedlichen Genera Anfang der 30er Jahre begonnen, Stadtnovellen und Stadtromane zu schreiben, in denen er die vorgefundenen Schemata des historischen, des Schauer- und Geheimnisromans und des ‚drame‘ in einer städtischen Umgebung ansiedelte. Paris wurde ihm zum zentralen Ort seiner ‚menschlichen Komödie‘, die die gegenwärtige Gesellschaft mit ihren natürlichen und sozialen Arten, ihrem „Mobiliar“ und ihren Gebrauchsgegenständen, ihren Tugenden und Lastern und den in ihr gelebten ‚drames‘ wiedergeben und so die in der Historie fehlende Geschichte der Sitten liefern sollte2.
In der Lyrik ließ ein Pendant von gleicher Bedeutung lange auf sich warten, obgleich die romantischen Lyriker durchaus am ‚Mythos Paris‘ und seiner poetischen Sprache mitwirkten, der sich nach 1830 über mehr als ein Jahrzehnt entwickelte3. Nach 1850 entdeckte Victor Hugo im Exil seine Liebe zu Paris, und die „poètes noctambules“, mit denen Baudelaire sympathisierte, besangen die kleinen Leute, die Handwerker und sozialen Randerscheinungen der Hauptstadt4. Aber erst Baudelaire ging das Thema grundsätzlich an, indem er die Frage nach dem spezifischen Schönen der modernen Großstadt stellte. Die ersten Überlegungen zum „héroїsme de la vie moderne“ und zur „modernité“ in seinen kunstkritischen Schriften stehen noch erkennbar unter dem Einfluss Balzacs. Doch der Lyriker Baudelaire besann sich bald auf die besondere Funktion der Dichtung und fand vom romantischen Konzept der Ekstase in der Natur (Mme de Staёl, Chateaubriand) über Poe zu einem lyrischen Enthusiasmus, der auch in der Großstadt wirken kann, weil er auf die inneren Phantasiebilder und auf den Menschen setzt. Das führte ihn in der Zweitauflage seiner Fleurs du mal (1861) zu der neuen Abteilung „Tableaux parisiens“ und in einem weiteren Schritt zum Spleen de Paris, einer Sammlung von Prosagedichten mit einer anpassungsfähigen ungebundenen Sprache, in der er bewusst auf den romanhaften „fil interminable d’une intrigue superflue“ verzichtete ( À Arsène Houssaye ). Damit hatte Baudelaire für die Großstadtdichtung einen Ausdruck gefunden, an dem fortan niemand mehr vorbeigehen konnte.
Dies widerfuhr ein halbes Jahrhundert später auch dem jungen Rilke, der nach ersten literarischen Versuchen mittellos und hoffnungsvoll aus der deutschen Provinz nach Paris kam, um dort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Erlebnis der als feindlich empfundenen fremden Großstadt und die ästhetische Auseinandersetzung Baudelaires mit dieser Welt waren für ihn so tiefgreifende und widersprüchliche Erfahrungen, dass er sie in einem eigenen Werk, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, verarbeitete. Sein Stellvertreter-Ich Malte, das darin um seinen dichterischen Weg ringt, und das Bild des Dichters, das Rilke mit dieser Figur zeichnet, folgen in einem bisher unerkannt gebliebenen Maße Baudelaires Vorstellungen vom „homme sensible moderne“. Zudem ist wohl auch bei Rilkes Entscheidung für ein „Prosabuch“, das mit Prosagedichten und erzählenden Stücken an der Grenze zwischen Lyrik und Roman angesiedelt ist, das Vorbild Baudelaires im Spiel gewesen.
Der Name Nathalie Sarrautes, die zum französischen ‚nouveau roman‘ der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gezählt wird, mag in der hier genannten Reihe zunächst erstaunen. Doch war es Sarrautes erster Roman Portrait d’un inconnu mit seinen wiederholten Anspielungen auf Baudelaire und auf Rilkes Malte Laurids Brigge, der mich auf die Spur des dichterischen Enthusiasmus in der Großstadt gebracht hat. Denn bald drängte sich die Vermutung auf, dass es sich hier nicht um punktuelle Nennungen oder zufällige Lesefrüchte handelte, sondern um den maßgeblichen ästhetischen Kontext, in dem das Erzähler-Ich des Romans die Suche nach seinem neuen Erzählgegenstand der Tropismen sieht und in den Sarraute selbst ihren Erstling einordnete. Tatsächlich stehen Sarrautes Anfänge als Schriftstellerin ( Tropismes , 1938) der Lyrik nahe, da die Tropismen allgemein menschliche seelische Regungen sind, freilich nicht nur solche eines Ichs, sondern ebenso die eines Anderen, eines Gegenübers und die jeweiligen Reaktionen darauf. Das Prosagedicht war daher für Sarraute eine natürliche Form, die sie aber bald überschritt. Auch war die Großstadt mit ihrer Vielfalt an Menschen, die einen reichen Nährboden für Tropismen liefert, ein selbstverständlicher Lebensraum für sie. Baudelaire und Rilke wurden ihr da zum expliziten Leitbild, wo es um den Dichter, seine Inspiration und deren Auslösemechanismen ging. Unter ihrem Einfluss gelang es Sarraute, in Portrait d’un inconnu den poetischen ‚neuen Roman‘ zu schreiben, der eine „poésie capable de s’expliciter elle-même, [de] montrer elle-même quelle est sa situation“ (Michel Butor) ist.
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