Ich bedankte mich und fuhr davon.
Alfred war diplomierter Vermessungsingenieur und war für seine Firma häufig unterwegs. In Schleswig sollte ein Autobahnprojekt verwirklicht werden, davon hatte er mir erzählt. Seine Firma hatte sich damals um den Vermessungsauftrag beworben und wohl den Zuschlag erhalten. Mittlerweile konnte ich mir durchaus vorstellen, dass auch die Geschichte mit den Vermessungsingenieur und dem Großprojekt erlogen war.
Ich machte mich wieder auf den Heimweg und grübelte tagelang darüber nach, ob er wirklich in der Lage sei, solche Morde zu begehen. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass er wohl ein gerissener Lügner, aber kein Mörder war.
Das erste Schuljahr in Singen ging dem Ende zu und ich hatte mich nach einem Haus umgesehen. Unterhalb des Hohentwiels in einem hübschen Vorort entdeckte ich ein Häuschen mit Garten, welches ich dank der Tatsache, dass ich Lehrerin war und an der Mittelschule in Singen unterrichtete, sofort übernehmen konnte. In den Ferien richtete ich mich ein und verbrachte herrliche Tage in dem kleinen Garten.
An einem sonnigen Tag hatte ich es mir auf der Terrasse gemütlich gemacht. Es klingelte an der Haustür. Es war Alfred. Anfangs zögerte ich ihn einzulassen, aber meine Nachbarin grüßte neugierig herüber und so beobachtet, reagierte ich anders, als ich es mir vorgenommen hatte, sollte er jemals vor mir stehen. Doch jetzt wurde ich plötzlich von einem solch merkwürdigen, sehnsüchtigen Gefühl übermannt, dass ich ihn mit klopfendem Herzen und atemloser Stimme hereinbat.
Er folgte mir langsam, sich aufmerksam umschauend, ins Wohnzimmer.
»Schön hast du es hier!«, meinte er anerkennend.
»Es ist noch nicht alles fertig«, sagte ich, nahm in einem Korbsessel gegenüber dem Fernseher Platz und bot ihm den Sitz zu meiner Linken. Schweigend musterten wir einander und ich hoffte, dass er meine innere Unruhe und mein heftig pochendes Herz nicht bemerken würde. Doch Alfred machte nicht den Eindruck, überhaupt irgendetwas zu bemerken, im Gegenteil, er wirkte ebenfalls nervös und war eifrig bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, unter welch großer Anspannung er stand.
Um das sich unangenehm ausdehnende Schweigen zu beenden, fragte ich: »Darf ich dir etwas anbieten? Ein Bier oder vielleicht ein Glas Wein? Ich könnte auch einen Kaffee machen.«
»Alkohol am Nachmittag ist wohl nicht das Richtige, außerdem muss ich noch fahren, ein Kaffee wäre ideal.«
Glücklich, Zeit zu gewinnen, stand ich auf, ging in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Gang, holte einen Rest Kuchen aus dem Kühlschrank, deckte den Tisch und nach einer Viertelstunde saßen wir etwas entspannter einander gegenüber. Ich wunderte mich, dass ich mich nach wie vor in seiner Gegenwart geborgen fühlte, was mich zornig machte und zu einer aggressiven Äußerung veranlasste.
»Willst du dich hier vor der Polizei verstecken oder hast du schon wieder eine Leiche im Keller?«
Er setzte seine Tasse so heftig ab, dass die Untertasse zerbrach, und fauchte mich an: »Ich habe nichts mit diesen Morden zu tun, das weißt du genau!«
»Ach, woher sollte ich? Ich bin doch die Blöde, der du jedes Märchen erzählen kannst!«, giftete ich.
Er sprang auf und lief im Zimmer herum. »Du hast recht, ich habe dich belogen. Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, jemandem zu erklären, dass man seine Eltern verloren hat, und vor allem, wie sie gestorben sind? Ich kann diese Mitleidsbekundungen nicht mehr ertragen!«
»Setz dich bitte wieder«, sagte ich mit unterdrücktem Zorn und meine Schultern bebten.
Er sah wohl meine innere Anspannung und tat mir den Gefallen. Ich sammelte die Scherben seiner Untertasse ein, brachte sie in die Küche und kam mit einer neuen zurück.
»Vor fast achtzehn Jahren«, fuhr er fort, »hatten wir wirklich ein Haus mit einem großen Garten in Heidelberg, die Straße kennst du. Als ich zwölf war, starb mein Vater, er hat sich umgebracht, das erfuhr ich erst viel später. Meine Mutter in ihrer Verzweiflung brachte sich ebenfalls um. Erspare mir bitte die Einzelheiten. Man brachte mich in ein Heim und ein Vormund wurde Verwalter meines Vermögens.«
Ich sah ihn zweifelnd mit großen Augen an.
»Du hast richtig verstanden«, versicherte er gereizt. »Es war nach dem Verkauf des Hauses und der Firma meines Vaters ein Restvermögen vorhanden, das mein Vormund, der leider mittlerweile auch verstorben ist, für mich so geschickt angelegt hatte, dass ich mir nach dem Abitur das Studium finanzieren konnte.«
Plötzlich konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte: »Warum hast du mir das nicht vorher erzählt? Ich hätte dich trotzdem geheiratet.«
Er trat zu mir und legte mir den Arm um die Schulter. »Es ist noch nicht zu spät. Elisabeth, lass uns einfach von vorn anfangen. Ich liebe dich.«
Ich wischte energisch die Tränen ab und schüttelte den Kopf. »Nein! Was ist mit den Morden?«
Seine Faust knallte auf den Tisch, bevor ich geendet hatte und das Geschirr begann bedrohlich zu wackeln.
»Verdammt! Ich habe nichts damit zu tun!«, brüllte er.
»Und warum sucht dich dann die Polizei?«, herrschte ich ihn an.
»Es gibt jemanden, der meinen Namen missbraucht. Er ist vor zwei Jahren bei mir zu Hause eingebrochen und hat meinen Pass gestohlen. Seitdem verfolgt er mich und hinterlässt Spuren, die auf mich hinweisen.«
»Das soll ich dir glauben?«, zischte ich verächtlich und versuchte, die erneut strömenden Tränen zu unterdrücken. »Die Polizei würde so etwas doch merken!«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, stöhnte er und fuhr sich mit den Händen durch das dunkle, wellige Haar. »Er verfolgt mich und ist immer ausgerechnet in der Gegend, in der ich mich gerade aufhalte. Sogar die Wohnung in Heidelberg hat er gefunden. Wenn ich wüsste, wer es ist, ich könnte ihn umbringen!«
»Das erledigst du dann lieber bei den Frauen«, warf ich entrüstet ein, schrak augenblicklich zusammen, weil er mit zornig zusammengekniffenen Augen abrupt vor mir stehen geblieben war. Instinktiv hielt ich einen Arm vors Gesicht und wich ängstlich zurück, mir erst jetzt meiner eigenen Worte bewusst werdend.
Sein Zorn war schneller erloschen, als er aufgekeimt war. Er ließ die Arme sinken und murmelte mit müder Stimme: »Wenn sogar du Angst vor mir hast, dann bin ich wirklich verloren.«
Er trat ans Fenster, während ich mit hastigen Bewegungen den Tisch abräumte und in die Küche eilte. Ohne auf mich zu achten, stand er da, sah hinaus und seufzte tief. Ich kam herein, setzte mich wortlos und überlegte, ob ich ihm glauben konnte.
»Warum gehst du nicht zur Polizei und erklärst alles?«
»Das ist unmöglich. Sie würden mir genauso wenig glauben wie du.«
Er kramte in seiner Tasche, holte etwas zum Vorschein und legte es auf den Tisch. Es war ein Ohrring mit einer kleinen Kette, an der ein Kreuz hing.
Voller Entsetzen starrte ich darauf und flüsterte in Panik: »Woher hast du ihn?«
»Er war in meiner Tasche. Jede der ermordeten Frauen trug nur einen Ohrring.«
Die Angst kroch in mir hoch. Dieser Mann vor mir war ein Mörder, trotzdem schienen seine Ausführungen glaubhaft, zumindest er selbst glaubte daran. Schizophrenie? Anders konnte ich mir seinen Zustand nicht erklären. Die absolute Verdrängung der Morde aus seinem Gedächtnis und die erstaunte Präsentation eines Beweisstückes ließen keinen anderen Schluss zu. Ich musste sehen, dass ich ihn loswurde, und dann sofort die Polizei einschalten. Alfred hatte sich wieder gefangen und war nun, nachdem er mit mir geredet hatte, ruhiger.
»Warum heiraten wir nicht, Elisabeth? Ich könnte deinen Namen annehmen und der Mann wäre für mich nicht mehr so bedrohlich.«
Ich war so verdutzt, dass ich es für einen Scherz gehalten hätte, wäre nicht sein ehrlicher Gesichtsausdruck gewesen. Dieser Mensch war gefährlich und ein guter Schauspieler dazu, ich musste sehr vorsichtig sein mit meiner Antwort.
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