Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang. Alfred erzählte von seinen Eltern und ihren geschäftlichen Schwierigkeiten und kam zum Schluss mit der Tatsache heraus, dass seine Eltern unmöglich der Hochzeit beiwohnen könnten.
»Was hat unsere Hochzeit mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu tun? Deine Eltern müssen nichts bezahlen, ich möchte sie nur dabeihaben«, empörte ich mich.
Alfred hörte geduldig zu und beschwichtigte: »Wir reisen hin, sobald sie alles geregelt haben.«
Anfangs schmollte ich, ließ mich aber besänftigen, schließlich wollte ich Alfred und nicht seine Eltern heiraten. Dann berichtigte ich ihm von dem Mordfall im Hotel.
»Das tut mir leid, ich konnte nicht ahnen, dass so etwas passiert!« Er nahm mich in die Arme und küsste mich und endlich, nach Tagen des Zorns, fühlte ich mich getröstet und beruhigte mich langsam. Mit Alfred sprach ich nicht mehr über seine Eltern, denn ich hatte gespürt, wie sehr es ihn bedrückte, dass sie nicht kommen konnten.
Drei Tage später war er für seine Firma unterwegs nach Norddeutschland und ich machte mich auf den Weg nach Heidelberg.
Ich wusste nur den Straßennamen, doch Alfred hatte von einem großen Haus mit Garten erzählt, von einem Dienstmädchen und einer Köchin; da würde es sicher kein Problem sein, seine Eltern zu finden. Mit klopfendem Herzen ging ich die Straße entlang. Es war eine vornehme Villengegend mit imposanten Häusern.
War ich seinen Eltern nicht gut genug? Oder hatte sich Alfred geschämt, mich ihnen vorzustellen? Ich kam mir klein und schäbig vor angesichts des Reichtums in dieser Straße, obwohl der Bauernhof meiner Eltern durchaus nicht armselig zu nennen war.
Aufmerksam betrachtete ich die Klingelanlagen an den Toren, fand aber nirgends den Namen Derfeld, da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein Postbote fuhr von Haus zu Haus, ich ging auf ihn zu und fragte ihn.
»Derfeld? Nein, in dieser Straße gibt es niemanden, der so heißt.«
»Es muss hier sein!«, beteuerte ich.
Der Postler schüttelte den Kopf. »In dieser ganzen Siedlung gibt es einen derartigen Namen nicht, da bin ganz sicher! Sie müssen sich irren.« Er hob seine Hand zum Gruß an die Mütze und fuhr davon.
Anfangs war ich ratlos, dann ging ich zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich dort. Auf dem Amt kannte man nur den Namen Alfred Derfeld. Die Anschrift gab man mir nicht, aber ich forschte im Telefonbuch und wurde fündig. Seine Wohnung war in einem Hochhaus im dritten Stock. Ich fuhr zu dieser Adresse, hastete die Stufen hinauf und klingelte. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine alte Dame mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem geblümten Kittel sprach mich an: »Herr Derfeld ist nicht da. Ist beruflich unterwegs.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, hakte ich nach.
Die Alte wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Er war erst letzte Woche ein paar Tage da. Soll ich ihm etwas bestellen?«
Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und fuhr davon. Auf dem Weg nach Hause zermarterte ich mir das Hirn, warum er mir so viele Lügen aufgetischt hatte. Kam noch etwas dazu? Waren Stellung und Beruf ebenfalls erfunden? Ich kam mir ausgenommen und verraten vor. Ich wusste nichts von ihm, außer dem, was er mir erzählt hatte. Wo war er in der Zeit, als der Mord im Wochenendhaus geschah? In seiner Wohnung, wie es die Nachbarin gesagt hatte? Vielleicht mit einer anderen Frau? Oder hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Die ganze Fahrt über grübelte ich. Zu Hause sprach ich allerdings mit niemandem darüber.
Eine Woche später kam Alfred zurück, gut gelaunt und liebenswürdig wie eh und je. Er hatte in den letzten Wochen immer unser Gästezimmer benutzt und war gerade auf dem Weg dorthin.
Ich ging ihm entgegen und zischte: »Du kannst deine Sachen packen! Wir sind geschiedene Leute!«
Ungläubig starrte er mich an. »Was soll das heißen? Kannst du mir das zumindest erklären?«
»Hauptstraße 97, dritter Stock«, fauchte ich ihn an.
Er wurde blass und stotterte: »Du weißt…?«
Ich nickte. »Lügner sind in diesem Haus nicht willkommen. Pack deine Sachen und lass dich hier niemals mehr blicken!«
Ich hatte mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, stattdessen hörte ich meine eigene keifende Stimme im Haus widerhallen und augenblicklich öffnete sich die Küchentür und meine Schwägerin stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.
»Was ist denn hier los?«, ging sie dazwischen.
Ich wurde rot vor Wut, ohne dass ich es wollte, klatschte meine Hand auf seine Wange und hinterließ dort deutliche Spuren, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief mit wehendem Rock und tränenüberströmtem Gesicht davon.
Alfred Derfeld stand einen Moment verdutzt da, schüttelte sich, ging in das Gästezimmer, packte seine Sachen und verschwand vom Hof. Gerda wollte ihn zurückhalten, aber er eilte stumm an ihr vorbei, stieg in seinen Wagen und wurde nie wieder in unserer Gegend gesehen.
Ohne Kommentar ertrug ich die Empörung meiner Familie über mein unmögliches Benehmen und die Frage nach den Gründen unseres Streites. Niemandem verriet ich, was vorgefallen war. Ich verschloss mich jeder Frage und Anteilnahme, bewarb mich um eine Stelle in Süddeutschland und ließ mich für Jahre nach Singen am Hohentwiel versetzen, woraus dann zehn Jahre wurden, bis ich nach Ostwestfalen zurückkam. Danach arbeitete ich bis zu meiner Frühpensionierung am Gymnasium der Kreisstadt.
Von Singen aus forschte ich allerdings gründlich nach der Familie Derfeld. Viel kam nicht dabei heraus, außer dass die Derfelds einst relativ wohlhabend waren. Jahre bevor ich Alfred kennenlernte, gerieten sie in eine finanzielle Krise und verloren Haus und Firma. Alfreds Vater nahm sich das Leben, kurze Zeit später ebenfalls die Mutter. Nach seinem zwölften Lebensjahr wurde Alfred in einem Heim untergebracht, danach verlor sich jede Spur von ihm. Erst bei der Anmeldung in seiner Wohnung in Heidelberg tauchte der Name wieder auf. Ob er Geschwister oder andere Verwandte hatte, erfuhr ich nicht.
Warum hatte er mir nichts von seiner Kindheit erzählt? Ich erwog, ihm zu schreiben, doch ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Er hatte mich belogen und so etwas konnte ich nicht durchgehen lassen.
Ich war gerade ein Jahr in Singen, als eines Tages ein Polizeibeamter bei mir auftauchte und mich erneut zu dem Mord in dem Ferienhaus vernahm. Diesmal informierte sich der Kommissar eingehend über Alfred Derfeld. Angeblich war er in Zusammenhang mit verschiedenen Mordfällen, die noch immer nicht aufgeklärt waren, gesehen worden. Jedes Mal, wenn eine junge Frau ermordet worden war, hielt er sich zufällig in der Nähe auf.
Erstaunt erkundigte ich mich nach den fraglichen Zeiten und stellte fest, dass alle drei vorangegangenen Morde geschahen, als ich Alfred für einige Tage bei seinen Eltern oder beruflich unterwegs wähnte. Ich gab dem Kommissar die Auskunft, die er benötigte und versicherte ihm, ich hätte Derfeld seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seine Anschrift in Heidelberg verriet ich ihm nicht. Der Beamte hinterließ seine Karte und verabschiedete sich mit den Worten: »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte umgehend an.«
Der Besuch ließ mir keine Ruhe und ich machte mich einige Tage später ein weiteres Mal auf nach Heidelberg zu Alfred Derfelds Wohnung. Das Namensschild an der Tür war verschwunden. Als ich klingelte, öffnete eine junge Frau und sagte auf meine Frage nach dem Vormieter, sie wisse nicht, wer vor ihr hier gewohnt habe. Gerade als ich gehen wollte, öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung und die ältere Dame, die ich schon vor einem Jahr kennengelernt hatte, stand vor mir.
»Er ist vor einigen Monaten ausgezogen. Seine Firma hat ein Großprojekt in Schleswig-Holstein. Er wollte sich dort eine Wohnung nehmen, um näher an seinem Arbeitsplatz zu sein.«
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