Sorgsam verwischte ich meine Fußspuren und achtete darauf, dass alles so war, wie ich es vorgefunden hatte, schlich zum Weg zurück und lief mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem nach Hause.
Wenige Stunden später befand ich mich auf dem Weg nach Baden-Württemberg. Vor zwanzig Jahren hatte ich mehrere Jahre in Singen verbracht und fuhr regelmäßig mehrmals im Jahr dorthin. Das Häuschen hatte ich abgeschlossen und den Schlüssel meiner Schwägerin übergeben. Gerda war überrascht von meiner unvorhergesehenen Abreise und schaute kopfschüttelnd meinem roten BMW hinterher.
»Jetzt tickt sie ganz durch, deine Schwester. So Hals über Kopf abzuhauen!«
Hermann Landner lachte. »Du kennst sie ja. Sie ist immer für eine Überraschung gut!«
Es war in einem kleinen Ort nahe Heidelberg vor über zwanzig Jahren. Alfred und ich hatten ein Zimmer in einem Landgasthaus gemietet. Es waren große Ferien und am zweiten Abend unseres Aufenthalts kam Alfred mit einem Rosenstrauß und machte mir einen Heiratsantrag, den ich gern und sofort annahm. Der Verlobungsring war ein schlichter Goldreif mit einem kleinen eingefassten Granaten. Noch nie war ich so verliebt gewesen und so uneingeschränkt glücklich.
Wir kannten uns erst wenige Monate, doch mir kam es vor, als seien wir immer zusammen gewesen, so wohl fühlte ich mich in seiner Gegenwart. Er war etwa einen Kopf größer als ich, schlank und hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Seine braunen Augen nahmen manchmal einen etwas melancholischen Ausdruck an, was ihn in den Augen der Frauen besonders interessant machte. Es störte mich, dass er oftmals in Anwesenheit einer schönen Frau anzutreffen war. Natürlich bemerkte er meine Eifersucht, nahm mich in den Arm und flüsterte: »Du bist die einzige Frau, die mir wirklich etwas bedeutet.«
Das beruhigte mich ungemein und einige Wochen später machten wir unsere Verlobung offiziell. Eine große Feier in meinem Elternhaus mit Freunden und Bekannten führte Alfred in die Gesellschaft unseres Dorfes ein, aber es hätte solcher Unterstützung gar nicht gebraucht. Alfred Derfeld hatte sich durch sein liebenswürdiges und hilfsbereites Wesen in unserem Ort schnell Freunde gemacht. Er nahm sich ein Zimmer in der Nähe und gehörte bald einfach dazu. Die Hochzeitsvorbereitungen waren in vollem Gange, die Feier sollte Ende Oktober stattfinden. Wir sahen uns Wohnungen an und überlegten, ob wir eventuell ein Haus kaufen sollten, als Alfred plötzlich den Wunsch äußerte, für einige Tage dem ganzen Wirbel zu entfliehen. Ich ließ mich nur zu gern überreden und wir fuhren in den Herbstferien in das Hotel, in dem wir uns kennengelernt hatten. Diesmal hatte Alfred eines der zum Hotel gehörenden Wochenendhäuser gemietet.
Schon bei der Ankunft wirkte er abwesend und verschlossen. Ich schob es auf die bevorstehende Hochzeit. Am zweiten Tag erklärte er mir, er müsse dringend mit seinen Eltern reden und ließ mich allein am Urlaubsort zurück.
Seine Eltern waren trotz Einladung nicht zur Verlobung erschienen, Alfred gab berufliche Gründe dafür an. Ich hatte sie nie gesehen, auch sonst wusste ich nichts von seiner Familie, außer, dass sie in Heidelberg wohnten. Ich hätte sie gern kennengelernt, aber da er mich nicht mitnahm, schloss ich daraus, dass seine Eltern nicht mit mir einverstanden waren.
Die beiden Tage ohne ihn verbrachte ich mit Wandern und Bummeln. Als ich am zweiten Abend in das Häuschen zurückkam, war er noch immer nicht da. Ich ging ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen und erstarrte vor Schreck. Eine blonde Frau lag voll bekleidet auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen. Ein Tüllschal war wie einen Strang um ihren Hals gezogen, der tief ins Fleisch einschnitt.
Ich trat vorsichtig zu ihr und berührte sie an der Schläfe. Sie war tot! Ein gellender Schrei ertönte, so laut und schrill, dass ich erst Sekunden später registrierte, dass er aus meiner Kehle stammte. In Panik rannte ich hinaus und lief zum benachbarten Hotel hinüber. Es gab einen riesigen Tumult und in Windeseile hatte sich das Geschehen im ganzen Ort herumgesprochen.
Die Polizei riegelte den Fundort ab, löcherte mich mit Fragen und hielt mich stundenlang fest. Zum Glück hatten mich mehrere Menschen, kurz bevor ich das Wochenendhaus betrat, gesehen und man konnte mir keine Schuld an ihrem Tod nachweisen. Auch nach Alfred wurde ich befragt. Da er seit zwei Tagen fort war, kam er somit als Täter nicht in Betracht. Die Tote war nach Angaben der Polizei erdrosselt worden, wahrscheinlich mit dem Tüllschal, den ich an ihrem Hals gesehen hatte.
Die junge Frau hatte als Verkäuferin in einer Lotto-Annahmestelle gearbeitet und war überall im Ort bekannt. Wir hatten sie bei unserer Ankunft gesehen. Sie hatte Alfred mit ihren blauen Augen angehimmelt und mir war aufgefallen, dass sie zwei unterschiedliche Ohrringe trug, eine schlichte Creole am rechten Ohr und am linken eine kleine Kette mit einem Kreuz am unteren Ende, welches fast bis auf ihre Schulter baumelte. Als der Rechtsmediziner sie untersuchte, trug sie nur die Creole, die Kette mit dem Kreuz fehlte.
Ich durfte unter Aufsicht einer Polizistin meine Sachen zusammenpacken, worüber ich insgeheim froh war, denn ich hätte keine einzige Stunde mehr in diesem Holzhaus verbracht. Danach wurde das Häuschen von den Beamten versiegelt und mir wurde ein Zimmer im Hotel zugewiesen. Obwohl ich völlig erledigt war, tat ich die ganze Nacht kein Auge zu.
Am nächsten Tag wurde mir von den Kriminalbeamten eröffnet, dass man die Tat zu einer Serie von Wochenendmorden zählte. In den vergangenen Monaten hatte es in der näheren Umgebung bereits drei solcher Fälle gegeben und bisher fehlte jeglicher Hinweis auf den Täter.
Wäre wenigstens Alfred an meiner Seite gewesen, hätte ich das Ganze besser verarbeiten können, aber er kam weder in der Tatnacht noch in der darauffolgenden Nacht. Nachdem ich zwei Tage lang ohne jegliche Nachricht von ihm oder seinen Eltern geblieben war, reiste ich mit Einwilligung der Behörden ab.
Zu Hause entschuldigte ich Alfred damit, dass er für einige Zeit bei seinen Eltern unabkömmlich sei. Über den Mord in dem Ferienhaus sprach ich nicht. Ich grübelte darüber nach, wer wohl der Mörder war und warum Alfred ausgerechnet an diesem Tag nicht zurückgekommen war. Außerdem war mir schleierhaft, warum die Tür zum Häuschen abgeschlossen war. Die Polizeibeamten erklärten mir, dass in allen Mordfällen die Zimmertüren verschlossen gewesen waren. Der Mörder musste über einen ganzen Satz passender Schlüssel verfügen oder er war in der Lage, Schlösser zu öffnen ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.
Ich war seit zwei Tagen zu Hause, als Alfred kam. Die Familie war gerade beim Abendessen, meine Mutter ging hinaus und begrüßte ihn herzlich. Liebenswürdig wie immer und ohne sich das Geringste anmerken zu lassen, kam er in die Küche, in der wir an dem großen Tisch saßen.
Mein Vater schob ihm freundlich einen Stuhl hin. »Setz dich zu uns, Alfred. Ist bei deinen Eltern alles in Ordnung?«
Alfred nickte lächelnd. »Danke, sie sind etwas im Stress, aber zur Hochzeit kommen sie auf jeden Fall.«
Er beugte sich zu mir hinunter, gab mir einen Kuss und setzte sich, während meine Mutter eilfertig einen weiteren Teller und Besteck holte.
Ich sah Alfred an und sprang auf. »Dass du dich überhaupt noch hertraust!«, zischte ich ihn an. »Mich einfach so allein zu lassen, ohne jegliche Nachricht!«
»Liebes, ich habe dir gesagt, ich fahre zu meinen Eltern!«
»Sicher hast du das gesagt!«, bemühte ich mich einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Du hast auch gesagt, du bist in zwei Tagen zurück, stattdessen bist du nicht gekommen. Gibt es bei deinen Eltern kein Telefon?«
»Elisabeth!« Mutter schüttelte tadelnd den Kopf.
»Ich erkläre es dir nachher, ja?!« Alfred lächelte mich bittend an und ich setzte mich schmollend wieder an den Tisch.
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