Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen
Die Wirkung, die eine Einzelbetreuung erzielen kann, hängt damit zusammen, ob und wie weitgehend es der Fachkraft gelingt, für den jungen Menschen biografisch relevant zu werden und damit zu einer Person, deren Meinung zählt, die um Rat gefragt und ins Vertrauen gezogen wird, die als Orientierung für das eigene Leben dient und mit deren Einstellungen man sich auseinandersetzt, ja, deren Haltungen man zu übernehmen geneigt ist, der man gefallen und vor deren Urteil man bestehen will. Es gibt einige persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die eine solche Wirkung unterstützen: Glaubwürdigkeit, Authentizität, Sympathie, Anerkennung, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit, Respekt, Höflichkeit, Interesse, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme.
Glaubwürdigkeit
Glaubwürdigkeit entsteht einerseits, wenn die Äußerungen eines Menschen in sich widerspruchsfrei und vom Ausdruck her glaubhaft sind, aber vor allem auch dann, wenn dieser Mensch für das, was er äußert, mit seinen Taten einsteht. Handelt ein Mensch deutlich sichtbar im Sinne seiner Einstellungen, gewinnt er an Glaubwürdigkeit und Autorität für andere und wird für sie überzeugend. Bei den eigenen Eltern und bei anderen pädagogisch Einfluss nehmenden Personen orientieren sich junge Menschen oft mehr am handelnden Beispiel als an ausdrücklichen Belehrungen und nehmen Widersprüche deutlich war.
Authentizität
Carl Rogers, der Begründer der Klientzentrierten Gesprächsführung, bezeichnete Kongruenz, die emotionale Echtheit und Transparenz des Therapeuten, als eines der drei wichtigsten Wirkungsmechanismen in der Therapie (die anderen beiden sind Akzeptanz und Empathie – s.u., vgl. Rogers 1981 3). Kongruent bzw. authentisch sein bedeutet seine eigenen Gefühle nicht zu verbergen, sondern sie im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten zu zeigen und zu thematisieren. Gemeint ist ein ehrliches, akzeptierendes, reflektiertes und ruhiges Umgehen mit den eigenen Gedanken und Gefühlen wie mit denen der Interaktionspartner.
[44]Sympathie
In seiner Studie über ambulante Einzelbetreuung verweist Fröhlich-Gildhoff darauf (2003), wie wichtig betreute junge Menschen die persönliche Sympathie zur Betreuungsperson und das Vorhandensein gemeinsamer Interessen nehmen. Gegenseitige Sympathie bildet offenbar die unverzichtbare emotionale Basis der Betreuung.
Anerkennung
Nach einer Erkenntnis von Klaus Wolf (2001) zeichneten sich Familienhelferinnen, denen es gelang ihre Adressatinnen und Adressaten wirksam zu Verhaltensänderungen anzuregen, dadurch aus, dass sie deren Kompetenzen aufspürten, diese hervorhoben, anerkannten und sie ermutigten, diese zu erproben und zu entwickeln. Übertragen auf die ambulante Einzelbetreuung bedeutet das, dass die jungen Menschen zur selbst verantworteten Entwicklung ermutigt werden müssen. Dies geschieht durch ein realistisches Erkennen und der Anerkennung dessen, wer sie sind, wozu sie fähig sind und wohin sie sich entwickeln könnten.
Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit
Bemüht sich die Betreuungsperson ehrlich um berechenbares und voraussehbares Verhalten, ist dies für die Adressatinnen und Adressaten ein wichtiger Faktor, um die Hilfe annehmen zu können. Ein alltagsnahes Jugendhilfeangebot beinhaltet immer eine Grenzüberschreitung, die dann akzeptabler wird, wenn sie nach transparenten Regeln stattfindet. Ebenso wenn das Hilfeangebot zuverlässig erbracht wird. Der informelle Kontext der ambulanten Einzelbetreuung kann Betreuungspersonen mangels Kontrolle und Rahmen zum nachlässigen Umgang mit Strukturen und Grenzen verführen. Regelmäßige und zuverlässige Termine, Pünktlichkeit im Rahmen des Möglichen, das Ankündigen und die Absprache von Änderungen und das Einhalten von Plänen von Seiten der Betreuungspersonen sollten selbstverständlich sein. Je klarer und offenbarer die Umgangsregeln der Maßnahme, desto geschützter sind die Integrität und die Partizipationsmöglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten. Ambulante Einzelbetreuer sollten sich zum Sachwalter von Klarheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Maßnahme machen vor einem Lebenshintergrund, der diese Merkmale oft vermissen lässt.
Respekt, Höflichkeit
Von Herzen kommendes respektvolles und höfliches Verhalten ist nicht nur ein unübertroffener Türöffner, es ist ebenfalls Garant eines partizipativen, gewaltfreien Umgangs miteinander und wirkt auch in extrem hoch gekochten Situationen deeskalierend bzw. die Eskalationen verlangsamend, wenn nicht gar sie verhindernd. Darüber hinaus regt respektvolles Verhalten zur Nachahmung an.
[45]Interesse
Rogers (1981 3) Begriff der Empathie setzt sich aus einem echten Interesse am Gegenüber, dem Wunsch sie oder ihn zu verstehen, und der Fähigkeit der Perspektivenübernahme zusammen (s.u.). Interesse am anderen mobilisiert in der professionellen Fachkraft Engagement und Energie. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, dem widerständigsten Problem länger auf der Spur zu bleiben als die Adressatin oder der Adressat selbst, die oder der zwar das Problem hat, aber vorzeitig an der Lösungsarbeit ermüdet. Ambulante Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen Durchhaltevermögen, Geduld und ausreichend Energie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Diese Energie wirkt auf die betreuten jungen Menschen ermutigend. Interesse und Neugier sind starke und nachhaltige Impulsgeber für die Betreuungsbeziehung, weil das Suchen nach Lösungen – beinahe mehr als das Finden von Lösungen – von Entdeckerfreude und Glück begleitet ist.
Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme
Sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen, sich wortwörtlich in die Schuhe einer anderen Person zu stellen – to put yourself in somebody’s shoes – ist eine anspruchsvolle kognitive Leistung, die nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben ist, aber systematisch geübt werden kann. Ein Schritt dabei ist, nichts, was man verstanden zu haben meint, für sicher zu halten und alles, was gehört und beobachtet wird, zu überprüfen. Das Bemühen darum, sich die Perspektive des anderen zu erarbeiten und deshalb im Zweifel immer wieder nachzufragen, wie etwas gemeint war, wirkt glaubwürdig und vertrauensbildend, weil die Adressatinnen und Adressaten damit die Deutungshoheit darüber behalten, wie sie wirken und wahrgenommen werden.
Partner und Akteur: der junge Mensch
Drei authentische Beispielfälle für ambulante Einzelbetreuungen zeigten unterschiedliche Ausgangslagen:
Die 17- jährigen Zwillinge Dennis und Christian schwänzten seit einiger Zeit die Schule und verbrachten ihre Zeit ausschließlich mit Computerspielen. Julia war in der Schule durch ihr stilles Verhalten im letzten halben Jahr aufgefallen. Dies stand möglicherweise mit einer Ehekrise von Julias Eltern in Zusammenhang. Rina war sehr dünn und wegen ihres starken Untergewichts schon mehrmals in der Klinik gewesen. Sie nahm dort zu, aber ihr erreichtes Gewicht ließ sich jeweils nicht halten, nachdem sie nach Hause zurück gekehrt war. Aus Sicht der meldenden Ärztin hatte Rinas Untergewicht inzwischen lebensbedrohliche Züge angenommen.
Bei allen drei Fällen war der Zugang zum Jugendamt unterschiedlich gewesen: Bei den Zwillingen hatten die Eltern um Beratung gebeten, bei Julia hatte die Lehrerin angerufen und bei Rina ihre Ärztin. In keinem Fall war es der junge Mensch selbst, der beim Jugendamt um Beratung ersucht hatten. Bisher – dies hat sich auch nach der Umformulierung des § 8 SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) im Januar [46]2012 nicht geändert 22– haben Minderjährige nur im Ausnahmefall das Recht, eine Beratung durch das Jugendamt ohne ihre Eltern in Anspruch zu nehmen.
Читать дальше