1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Für die Erziehungsbeistandschaften, den weitaus größten Anteil der ambulanten Einzelbetreuungen, ist eine vergleichbare Entwicklung ausgeblieben. Obwohl sie zahlenmäßig ebenfalls sehr stark zunahmen, entwickelte sich weder ein nennenswertes wissenschaftliches noch ein erkennbares methodisches Interesse. Bis auf eine Studie von Fröhlich-Gildhoff (2003) gibt es kaum empirische Literatur zu dieser Hilfeart, keine Forschung zu methodischen Weiterentwicklungen und keine wissenschaftlichen Evaluationen. Die verbreiteten niedrigschwelligen Betreuungsangebote mit geringen wöchentlichen Stundenzahlen blieben vom fachlich-methodischen Diskurs und von der strukturellen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung weitgehend ausgeschlossen, obwohl die Betreuungszahlen weiterhin ansteigen.
Der geringen Aufmerksamkeit der Fachwelt entspricht eine heterogene und fast zufällig scheinende Umsetzung der Maßnahmen. Dabei existieren für den Tätigkeitsbereich keine spezifischen Mindestqualitätsstandards oder Strukturvorgaben.
Auch hinsichtlich der Indikationsfrage gibt es Verbesserungsbedarf. Schon bald nach der Einführung des KJHG wurde die Indikations- und Hilfeplanungspraxis der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter allgemein kritisiert. So wird von der Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002) über die Aufsatzsammlung „Was tun mit schwierigen Kindern?“ (Henkel, Schnapka, Schrapper 2002) bis zu Sabine Aders „Was leitet den Blick?“ (2006) 20durchgängig kritisiert, dass die Zuweisungen von Jugendhilfemaßnahmen willkürlich und hinsichtlich der zu bearbeitenden Problematik und der angestrebten Ziele zu wenig durchdacht sind. Besonders die ambulanten Einzelbetreuungen werden in der Jugendhilfe als unspezifisches Allheilmittel eingesetzt. Das mangelnde Methoden- und Wirkungswissen führt dazu, dass die Hilfe für beinahe jede Problematik, jedes Alter und bei beliebiger Problemintensität eingesetzt wird. Ausschlusskriterien scheint es keine zu geben. Hinsichtlich der Höhe der Stundenzahlen und der Kontaktfrequenz lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Maßnahmezuschnitt und der Intensität der Problematik feststellen. Für welche Zielgruppen und Problematiken sich diese Jugendhilfemaßnahme eignet oder nicht eignet, durch welche Hilfen sie gegebenenfalls sinnvoll ergänzt werden kann und – was wichtiger wäre – wo die Grenzen der Hilfeart liegen, ist bisher unbestimmt.
Möglicherweise entspricht dem geringen fachlichen und strukturellen Status der ambulanten Einzelbetreuung ein geringer Wirkungsgrad. In der großen Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab) von 2002, die längsschnittlich über drei Messzeitpunkte die Wirkungen verschiedener Jugendhilfemaßnahmen erhob und miteinander verglich, wurde die Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität der untersuchten Erziehungsbeistandschaften im Vergleich zu den übrigen Erziehungshilfen als wenig günstig und die Hilfeform insgesamt als erschreckend gering wirksam beurteilt.
„Hilfen im Rahmen von Erziehungsbeistandschaften versorgten eine eher ungünstige Klientel. Die schwachen Prognosen für deren Entwicklung könnten durch vertiefte Diagnostik verbessert werden. Bei niedriger Strukturqualität und mittlerer Prozessqualität zeigte diese Hilfeform die höchste Rate an Abbrüchen; diese werden häufig vom Jugendamt und der hilfeleistenden Institution gemeinsam verantwortet. Die in dieser Hilfeform erzielten Wirkungen waren relativ schwach. Symptomreduktion und Kompetenzsteigerung gelangen [37] nur unterdurchschnittlich, die Beeinflussung des Umfeldes durchschnittlich. Schwierigkeiten bereitete die Herstellung einer ausreichenden Kooperation mit dem Kind oder seinen Eltern.“ 21
Die Erkenntnisse der Jugendhilfe-Effekte-Studie zur Erziehungsbeistandschaft sind ernüchternd, obwohl es sich schon im Untersuchungszeitraum um eine der ältesten, der am häufigsten durchgeführten und damit um eine außerordentlich erprobte Jugendhilfemaßnahme handelte. Bei unklarer Indikation und unspezifischem Einsatz wurden Familien mit den höchsten Problematiken umfasst, die durchschnittlich ältesten Kinder mit den schlechtesten Prognosen und der höchste Migrationsanteil aller Jugendhilfemaßnahmen. Der Anteil der Abbrüche (43 %) war unter allen Jugendhilfemaßnahmen am höchsten und die durchschnittliche Dauer am geringsten. Die Erziehungsbeistandschaft hatte insgesamt die geringsten Wirkungen und die geringste Zielerreichung von allen Jugendhilfen, ihre Strukturqualität war im Vergleich am geringsten und hohe Problembelastung und geringer Aufwand trafen aufeinander.
Wie die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigen, liegt das Erfolgsniveau der ambulanten Einzelbetreuungen noch immer deutlich unter dem Durchschnitt aller Hilfen zur Erziehung. Einer immensen Problembelastung steht eine Hilfe gegenüber, die mit Recht Stiefkind der Jugendhilfe genannt werden kann. Das geringe Engagement des Sozialstaats, der Träger und der Fachöffentlichkeit ist auch aus humanitären Gründen nicht vertretbar, da die Hilfeform offenbar bevorzugt bei besonders benachteiligten jungen Menschen eingesetzt wird. Ähnliches gilt für Betreuungsweisungen, also für die Erziehungsbeistandschaften, die bei Delinquenz auf Weisung der Gerichte anstelle von Sanktionen angeordnet werden. Auch hier existiert kein Methoden- und Wirkungsdiskurs, der über eine allgemeine Verurteilung des Zwangscharakters der Maßnahmen hinausgeht, und dies, obwohl diese Maßnahmen ausgesprochen problembelastete und benachteiligte Fälle versorgen, die kurz vor der Schwelle zum Erwachsenwerden und oft an einem biografischen Scheideweg zwischen gelingendem sozialem Anschluss und kriminellem Werdegang steht. Gelingt zu diesem Zeitpunkt eine Integration in die Bildungsinstitutionen und eine Normalisierung des Lebenslaufs auch mit Unterstützung von Jugendhilfe nicht mehr, sind die negativen Folgen später meist nicht mehr einzuholen. Wenn Jugendhilfemaßnahmen an dieser Schaltstelle der Biografie versagen, steigt das Risiko, dass eine selbstgestaltete und integrierte Lebensführung endgültig misslingt.
Merkmale des Angebots
In der Ausführung und im Setting weist die ambulante Einzelbetreuung charakteristische Merkmale auf, durch die sich das Hilfeangebot von den anderen Hilfen zur Erziehung unterscheidet (s. Tabelle 2).
[38] Tabelle 2: Überblick über die Merkmale des Angebots
Ort der Hilfe |
Wohn- und Lebensort des jungen Menschen unter Einbeziehung des sozialen und institutionellen Umfelds |
Setting |
Eins- zu- eins- Kontakt, Beziehungsarbeit |
Problemlagen |
nicht näher eingegrenzt, oft diffus |
Zielgruppe |
nicht näher eingegrenzt |
Funktion |
multifunktional, unspezifisch |
Intensität |
geringe Intensität und Struktur, niedrigschwellig – die meisten Maßnahmen < 10 h/Woche, durchschnittl. 6–7 h/Woche |
Quelle: Eigene Darstellung.
Ort der Hilfe
Das lateinische Verb ambulare bedeutet umhergehen, spazieren gehen. Ambulante – d.h. zugehende – Soziale Arbeit ist im Gegensatz zu stationärer – d.h. in einer stationären Einrichtung erbrachter – Sozialer Arbeit definiert. Der Wortgebrauch leitet sich ursprünglich aus der Medizin ab.
Arbeitsort der ambulanten Einzelbetreuung ist der Lebensort des jungen Menschen. Dies kann die Herkunftsfamilie sein, der eigene Haushalt, die Pflegefamilie, in der er lebt, die Freunde, bei denen er vorübergehend untergekommen ist. Sogar wenn der junge Mensch obdachlos ist, stellt das kein Hindernis für die Betreuung dar. Das Hilfeangebot ist nicht an Mindestbedingungen geknüpft und passt sich flexibel der jeweiligen Wohnsituation an, unabhängig von Milieus und Beziehungsstrukturen, solange ein Umzug des betreuten jungen Menschen oder seiner Eltern nicht zu einem Wechsel der Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamtes führt. Die Hilfe bindet sich nicht an bestimmte Lebensstrukturen, sondern in erster Linie an die Person, mit der gearbeitet wird.
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