■ Die ambulante Einzelbetreuung beinhaltet gleichfalls die Aufgabe, eine demokratische Aushandlungspraxis in den betreuten Familien ausdrücklich zu unterstützen, die dazu notwendigen Haltungen und Kompetenzen bei allen Beteiligten zu fördern, auf eine demokratisch-partizipative Erziehung zu drängen und die dazu notwendigen Methoden zu vermitteln. Dies betrifft unmittelbar das gelebte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Über den advokatorisch-parteilichen Auftrag gegenüber dem betreuten jungen Menschen hinaus folgt aus dieser Vorgabe, dass nicht seine Interessenvertretung um jeden Preis, sondern lösungsorientierte und auf Aushandlung und Ausgleich von Interessengegensätzen ausgerichtete kooperative Kommunikationsstrategien im Vordergrund der Maßnahme stehen müssen.
■ Bildungsinstitutionen sind nicht nur Einrichtungen sozialer Auslese, sondern sie können – und sollen zunehmend – als Ermöglichungsinstitutionen für individuelle Entwicklung und die Erschließung gesellschaftlicher Teilhabe für bildungsferne und benachteiligte junge Menschen nutzbar werden. Der Auftrag der Jugendhilfe und damit auch der Einzelbetreuung besteht also nicht in der Reproduktion des Anforderungsdrucks, den Schulen und Ausbildungsinstitutionen immer noch überwiegend hervorbringen, sondern in einer Umgestaltung des Bildungssystems in einen zugänglichen Raum für Handlungsmöglichkeiten, Gemeinschaftsgefühl, das Erleben von Sinn und das Entwickeln und Ausleben persönlicher Perspektiven.
Nicht zuletzt gehört zu den übergeordneten Aufgaben der Jugendhilfe, dem jungen Menschen die menschliche Gesellschaft als Horizont zur Verwirklichung individueller Möglichkeiten zugänglich zu machen. Mobilität muss gelernt, soziale und kulturelle Schwellen müssen abgebaut, kulturelle, musische und sportliche Betätigung geübt, Interesse an der natürlichen und sozialen Umwelt gepflegt und insgesamt eine angemessene und aktive Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit praktiziert werden. Die Ächtung von gewalttätigen, andere schädigenden Strategien, eine respektvolle und[49] tolerante Haltung gegenüber anders Denkenden und Fühlenden und die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Menschen ist unverzichtbarer Teil des Jugendhilfeauftrags.
Tabelle 3: Gesetzliche Orientierungen im Überblick
Paragrafen |
Orientierungen |
§ 30 SGB VIII Erziehungsbeistandschaft, Betreuungsweisung |
Verselbstständigung und Autonomie fördern |
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Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützen |
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Lebensweltorientierung |
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Erhalt des Lebensbezugs zur Familie |
§ 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung |
soziale Integration unterstützen |
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Autonomie fördern |
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AdressatInnenorientierung (Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des jungen Menschen) |
§ 5 SGB VIII Wunsch- und Wahlrecht |
AdressatInnenorientierung |
§ 8 SGB VIII Beteiligung des jungen Menschen |
Partizipation des jungen Menschen fördern |
§ 16 SGB VIII Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie |
Gewaltfreiheit fördern |
§ 36 GB VIII Mitwirkung, Hilfeplan |
Partizipation der Eltern und des jungen Menschen fördern |
§ 6 GG, KKG |
Förderung der Familie |
§ 1631 BGB |
Recht auf gewaltfreie Erziehung |
§ 1666 BGB, KKG |
Kinderschutz, staatliches Wächteramt |
Quelle: Eigene Darstellung
Hilfe am Limit
Als Voraussetzung für die Hilfegewährung einer Jugendhilfeleistung nennt das Kinder- und Jugendhilfegesetz unter anderem die Geeignetheit und Notwendigkeit des jeweiligen Hilfeangebots (§ 27 SGB VIII). Obwohl dieses Kriterium im KJHG prominent platziert ist, sind die Grenzen der Hilfeangebote selten Thema der Fachdiskussionen. Aufgrund der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen und Methoden sind nicht alle Hilfearten für die Bearbeitung aller Problematiken gleichermaßen geeignet. Bei welchen Problematiken gerät eine Hilfeart an ihre Grenzen? Wann also eignet sich eine Hilfe wie die ambulante Einzelbetreuung nach fachlichem Ermessen nicht für eine [50]Problembearbeitung und wann sollte sie durch ein anderes, geeigneteres Angebot ersetzt oder ergänzt werden?
Auch wenn die ambulante Einzelbetreuung ein außerordentlich flexibles Hilfeangebot ist, das aufgrund der geringen Strukturiertheit prinzipiell an beinahe jeden lebensweltlichen Kontext angepasst werden kann, entfaltet sie ihre Wirkung doch nur innerhalb der Grenzen ihres Betreuungssettings und ihren an zugehender, lebensweltorientierter Arbeit ausgerichteten Rahmenbedingungen.
Sozialkompetenzprobleme und Verhaltensauffälligkeiten junger Menschen stellen Problematiken dar, die häufig Hilfeanlass für eine ambulante Einzelbetreuung werden. Sozialer Rückzug und Isolation, unangemessenes Verhalten gegenüber anderen bis zur Übergriffigkeit und Aggressivität, Unruhe und Opposition in der Schule und allgemeine Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit Gleichaltrigen gehören dazu. Soziales Lernen lässt sich aber in einem Eins-zu-eins-Kontakt nur eingeschränkt einüben, vor allem, wenn sich die sozialen Probleme des jungen Menschen in der Hauptsache auf Gleichaltrige oder einen speziellen Kontext wie die Schule beziehen. Zwar kann die Einzelbetreuung einen Reflexionsrahmen für die problematischen Verhaltensweisen des jungen Menschen und die theoretische Entwicklung alternativer Strategien bieten, aber um die Praxis im natürlichen Umfeld zu üben sind Gruppenkontexte notwendig, die denen ähneln, in denen die sozialen Schwierigkeiten der betroffenen Adressatinnen und Adressaten normalerweise auftreten.
So werden bei einer gut funktionierenden Betreuungsbeziehung im Eins-zu-eins-Setting Aggression, Impulsdurchbrüche, Unkonzentriertheit und massive Ängste, die junge Menschen in anderen Kontexten zeigen, nur eingeschränkt oder gar nicht auftreten. Auch das begleitete Aufsuchen von Gruppenkonstellationen verhilft nicht unbedingt zu sozialem Lernen, denn die Anwesenheit der betreuenden Fachkraft und das berechtigte Vertrauen des jungen Menschen darauf, dass diese auftretende Schwierigkeiten lösen werden, mindert den empfundenen Stress und führt damit zu einer Verminderung des Lernanreizes und der persönlichen Lösungsverantwortung.
Grundsätzlich ist die sozialpädagogische Bearbeitung von sozialen Kompetenzdefiziten, die vor allem in Gruppensituationen auftreten, nur im Gruppenkontext möglich. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden in den letzten Jahren flexible Hilfen entwickelt, bei denen dynamische Kombinationen aus Einzel- und Gruppenbetreuung möglich sind und bei denen in einem Stufenmodell auf eine zunehmende Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des sozialen Handelns auch unter herausfordernden Bedingungen hin gearbeitet werden kann (s. Kap. Kombinations- und Gruppenangebote).
Bei ernsthaften Alltagsstrukturproblemen, massiver Schulverweigerung oder manifesten Essstörungen gelangt ambulante Einzelbetreuung ebenfalls schnell methodisch an ihre Grenzen. Diese sehr unterschiedlichen Problematiken haben gemeinsam, dass ihre Bearbeitung eine starke, konsequente und den gesamten Alltag umfassende Strukturierung verlangt, die familiäre Lebenswelt diese aber nicht bietet und die jungen Menschen eigenverantwortlich noch nicht dazu in der Lage sind. Nur wenn die Familie ein Mindestmaß an Mitarbeitsbereitschaft und Konsequenz in der Umsetzung zeigt, kann die Bewältigung dieser Probleme mit Hilfe ambulanter Jugendhilfe gelingen. Der Versuch, mit dem jungen Menschen – unabhängig vom familiären Umfeld und quasi gegen seine Einflüsse anarbeitend – eine gelingende Alltagsstruktur zu installieren, den Schulbesuch und seine alltagsstrukturellen Voraussetzungen zu gewährleisten oder ein verändertes Essverhalten umzusetzen, ist ein praktisch aussichtsloses Unterfangen. Es kann vorkommen, dass Eltern verbal die Ziele und Maßnahmen der Einzelbetreuung unterstützen, die erforderlichen Umsetzungsschritte aber nicht durchführen oder die Maßnahme sogar[51] unterlaufen. Aufgrund der zeitlich relativ geringen Präsenz der Fachkraft in der Lebenswelt des betreuten jungen Menschen bleibt der Einfluss der Eltern und der Familie gegenüber dem schwächeren Jugendhilfeeinfluss dominant. Die Wirksamkeit der Maßnahme ist folglich von einer kooperativen Einstellung und einem zuverlässig kooperativen Handeln der Familie abhängig.
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