Als dem Herangewachsenen Zweifel kommen, ob er der leibliche Sohn seiner Eltern ist, Die Vorhersehungbefragt er seinerseits das Delphische Orakel und erhält den Hinweis, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Um das zu vermeiden, beschließt er, nicht nach Korinth zurückzukehren. Als er auf fremdem Boden in einen Streit verwickelt wird, den er siegreich für sich besteht, indem er seinen Gegner erschlägt, ahnt er nicht, dass damit ein Teil der Prophezeiung erfüllt ist.
Sein Weg führt ihn nach Theben, wo eine Sphinx, ein sagenhaftes Unwesen, die Stadt bedroht. Ödipus befreit die Stadt, wird als Retter gefeiert, der die Geschicke des Gemeinwesens führen soll, da der Thron seit kurzer Zeit verwaist ist. Er übernimmt die Herrschaft, heiratet die verwitwete Königin Iokaste und zeugt mit ihr vier Kinder: Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles.
Abb. 1: Stammbaum der Antigone
Dann wird Theben von der Pest befallen. Das Delphische Orakel erklärt, die Stadt werde erst von dieser Pest befreit, wenn der Mord an König Laios, dem Vorgänger des Ödipus, aufgeklärt sei. Die Untersuchungen ergeben, dass Ödipus unwissentlich seinen eigenen Vater erschlagen hat, als er auf dem Rückweg vom Delphischen Orakel mit einem adligen Herrn in Streit geriet, der ihn vom Weg treiben ließ. Nun ist auch klar, dass Iokaste, die Gattin seines Vorgängers, zugleich seine Mutter und seine Gemahlin ist.
Als Iokaste diese Schmach erfährt, erhängt sie sich. Ödipus sticht sich die Augen aus und lässt sich in die Verbannung schicken. Kreon, der Schwager von Ödipus, übernimmt die Regierungsgeschäfte bis Polyneikes und Eteokles alt genug sind, um zu herrschen. Dann aber geraten die beiden in Streit, Eteokles behauptet sich. Polyneikes geht nach Argos, sammelt Truppen und zieht gegen Theben, um die Stadt für sich zu gewinnen. Im Zweikampf fallen beide. Kreon und die Kinder des ÖdipusKreon, der Bruder der Iokaste und Onkel von deren Kindern, übernimmt nun als der einzig Nachfolgeberechtigte die Herrschaft in Theben. Seine ersten Verfügungen betreffen die Frage, wie mit den Gefallenen, den beiden Söhnen des Ödipus, nämlich Polyneikes und Eteokles, umzugehen sei. Den einen ächten, den anderen ehrenvoll bestatten? Antigone und Ismene, die Schwestern der Toten, sind von der Verordnung unmittelbar betroffen. Mit einem Dialog der Schwestern beginnt die gespielte Handlung.
Abb. 2: Eteokles und Polyneikes
Ölgemälde von Giovanni Battista Tiepolo, ca. 1725–30
Die im Theater dargestellte Handlung
Prolog
Antigone, die Tochter des Ödipus, erinnert ihre Schwester Ismene an die Schicksalsschläge, die diese Familie – vor allem Ödipus und seine Gattin Iokaste – erlitten hat, und bereitet Ismene auf eine neue Herausforderung vor: Kreons Gebot Kreon, »des Heeres Führer« (V. 8), ihr gemeinsamer Onkel, habe verkündet (V. 8), dass von den beiden Brüdern, die um die Stadt Theben gekämpft haben und dabei gefallen sind, der eine – Eteokles – als Verteidiger Thebens mit Ehren bestattet werden solle. Den anderen aber – Polyneikes, Verräter und Feind der Stadt – »solle keiner / im Grabe bergen und bejammern« (V. 27). Dem, der dieses Gebot (V. 31) übertrete, drohe Tod durch »Steinigung« (V. 36). Antigones ReaktionAntigone fühlt sich verpflichtet, entgegen diesem Verbot Polyneikes die letzte Ehre zu erweisen: »Schön ist mir nach solcher Tat der Tod« (V. 72); sie kann jedoch Ismene nicht zur Mithilfe überreden. Diese will sich »denen, die im Staat das Sagen haben« (V. 67) fügen, fühlt sich auch als Frau zu schwach, um gegen ein Männerwort anzugehen, und möchte nicht ein weiteres Glied in der Leidenskette der Familie werden. Antigone dagegen fühlt sich »denen drunten« (V. 75), also den Verstorbenen und dem Gott des Hades, mehr verpflichtet »als denen hier« (V. 75), auch wenn diese Herrscher über die Stadt sind, und bleibt bei ihrem Plan.
Das Gespräch findet vor dem Haus der Königsfamilie am Morgen (V. 103) statt – unmittelbar nach der Nacht, in der Eteokles und Polyneikes gefallen sind (V. 13) und Kreon als der neue »Führer« (V. 8) die Herrschaft angetreten hat. Die gesamte folgende Handlung wird vor diesem Haus an dem nun folgenden Tag gespielt.
Einzugslied des Chores / Parodos
Angesichts der aufgehenden Der Sonnengesang der ThebanerSonne preist der Chor der thebanischen Greise den Sieg Thebens gegen die Angreifer aus Argos unter Führung des Polyneikes. Aus thebanischer Sicht hat die Siegesgöttin, »Nike, die vielgepriesene« (V. 148), Grund genug gegeben, mit »nachtlangen Tänzen« (V. 153) zu feiern. Zu bedauern ist nur das »furchtbare[ ] Brüderpaar, […] einem Vater / und einer Mutter entstammend« (V. 144 f.) – gemeint sind Eteokles und Polyneikes. Der Tod der beiden einzigen männlichen Nachkommen des Ödipus hat zur Folge, dass Kreon, »Menoikeus’ Sohn« (V. 156), der Schwager des Ödipus und der Onkel von dessen Kindern, nun »der König des Landes« (V. 155) ist. Dieser tritt aus dem Palast und will zur »Versammlung der Alten« (V. 159) sprechen, die durch den versammelten Chor repräsentiert wird.
Erster Auftritt / 1. Epeisodion
Kreons BestattungsverbotKreon versichert sich bei den Ältesten der Loyalität, die die Stadt seinen Vorgängern Laios, Ödipus und dessen Söhnen erwiesen hat, und verpflichtet die Versammelten, als »Hüter des Verfügten« (V. 215) mit zu sorgen, dass Polyneikes nicht beerdigt wird. Die ZuwiderhandlungKaum ist das Gebot ausgesprochen, als ein Wächter herankommt, der voller Angst gestehen muss: »Den Toten hat soeben einer / bestattet« (V. 245 f.). Die aufgestellten Wachen haben offensichtlich nicht verhindern können, dass jemand »Staub« (V. 256) auf die Leiche streute und damit die Beerdigung vollzog, »wie um Befleckung zu vermeiden« (V. 256). Voller Zorn fordert Kreon: »Entdeckt ihr nicht, wer die Bestattung hat vollbracht, / und stellt den Täter sichtbar vor die Augen mir, / so soll der Tod allein euch nicht genügen« (V. 306–308). Er vermutet, dass »Männer dieser Stadt […] die Wächter dort / um Lohn verleitet« (V. 289–294) haben. Hinter der Tat vermutet er ein Komplott und droht dem Wächter und vielleicht auch den Ältesten der Stadt: »[…] wenn ihr mir nicht / die Täter anzeigt, sollt ihr noch bekennen, / dass niederträchtiger Gewinn nur Leiden schafft!« (V. 324).
Erstes Standlied / 1. Stasimon
Der allein gelassene Chor scheint aus dem, was er gehört hat, seine Schlüsse zu ziehen: Der Wächter hat »das Ungeheure« ( tá deiná ) (V. 243) berichtet; dieses Wort nimmt der Chor auf und reflektiert: »Lied über die zwiespältige Natur des MenschenZahlreich ist das Ungeheure [ tá deiná ], doch nichts / ungeheurer [ deinóteron ] als der Mensch« (V. 332). Das zugrundeliegende griechische Adjektiv deinós kann sowohl mit ›furchtbar‹, ›schrecklich‹ wie auch mit ›außerordentlich‹, ›tüchtig‹, ›gewaltig‹ oder ›unerhört‹ übersetzt werden. So kann eine Tat in gutem oder in schlechtem Sinne »unerhört« sein; ein Mensch kann im guten und im schlechten Sinn aus der Allgemeinheit herausragen. Es ist eben die Frage, wie er seine Fähigkeiten als Seemann (V. 334), als Bauer (V. 338) oder als Jäger (V. 342 f.) nutzt. Als Mensch verfügt er über »Sprache« (V. 353), über »den Trieb, Städte / zu ordnen« (V. 355), weiß »[a]us früher unbezwinglichen Krankheiten […] ein Entrinnen« (V. 363 f.), leistet viel im Bereich von Kunst und Wissenschaft (V. 365). Immer aber ist festzustellen: er »schreitet […] bald zum Bösen, bald zum Guten« (V. 366).
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