»Ich habe keinen Arbeitgeber.«
»So?« Vigilante steuerte den Ford Ranger den enger werdenden Pfad hinunter. Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, doch von den Verfolgern war bisher nichts auszumachen. Er gab sich jedoch nicht der Illusion hin, sie endgültig abgehängt zu haben. Dafür wusste er zu wenig über sie, ihre Truppenstärke und ihre Logistik.
»Wie gesagt, ich bin E-Sportlerin und nehme an Turnieren teil, für die ich Geld bekomme. Nebenher trete ich in ein paar Schuppen auf und mache Musik, um meine monatliche Miete zu bezahlen.«
Er runzelte die Stirn. »So gar nicht die Schwester, oder? Ich dachte, Zwillinge wären sich sehr ähnlich.«
»In dem Punkt offenbar nicht. Unsere gemeinsame Vorliebe sind Computer. Während Karma mehr in die Tasten haut, haue ich lieber auf virtuelle Mitspieler.«
» Call of Duty .«
»Und Counter Strike .«
»Das Durchladen der Waffe haben Sie aber nicht aus einem Spiel, oder?«
Hawkes schüttelte den Kopf. »Ein Kumpel von mir ist Jäger und hat mich oft mitgenommen. Er hat mir so allerlei Tricks gezeigt. Und im Gegensatz zu meiner Schwester war ich bei den Pfadfindern.«
Vigilante legte den Kopf schief. »Und im Gegensatz zu Ihrer Schwester haben Sie den eingebürgerten Namen Ihrer Eltern angenommen.«
»Lassen Sie uns jetzt nicht damit anfangen.«
»Schon gut, geht mich ja auch nichts an.« Die Waldstrecke öffnete sich zu einer Lichtung, die bis zu dem vor ihnen liegenden See reichte. Dabei handelte es sich um die nördlichen Ausläufer des Somerset Reservoirs, des größten Binnengewässers in der Umgebung. Am Ufer befand sich ein kleiner Anlegesteg an dem ein Motorboot befestigt war: eine kleine Boston Whaler 160 Super Sport, etwas über fünf Meter lang, knapp zwei Meter breit mit einem 90 PS starken Außenborder, der das Boot immerhin auf über 37 Meilen pro Stunde beschleunigte.
Vigilante stoppte den Ford Ranger vor dem Steg, langte nach dem Rucksack mit den Waffen und sprang aus dem Wagen. Hawkes blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er eilte zum Steg, machte das Tau vom Poller los, sprang über die Kante des Boots, warf den Rucksack zwischen die beiden Sitze, bot Hawkes eine Hand an, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, und ließ sich dann auf dem Sessel des Steuermanns nieder. Die Version des Boston Whalers, die Vigilante sich gegönnt hatte, bestand nur aus einem zweisitzigen Arrangement sowie einer freien Sonnenfläche vorn am Bug, auf der bis zu vier weitere Personen Platz fanden, wenn sie auf Tuchfühlung gingen. Bisher war er nie mit jemand anderem mit dem Boot rausgefahren, und wenn er es sich offen eingestand, war aus seinem Vorhaben, öfter mal auf den See rauszufahren, kaum etwas geworden. Dreimal in den letzten vier Monaten hatte er das Boot genutzt.
Hawkes setzte sich neben ihn, während Vigilante den Außenbordmotor startete, der nach zwei Stotterpartien beim dritten Mal losröhrte. Er gab Schub und das Boot löste sich vom Steg und glitt langsam auf den See hinaus. Als sie die Anlegestelle hinter sich gelassen hatten, gab Vigilante vollen Schub. Der Motor heulte auf und das Boot nahm Fahrt auf. Kurze Zeit später erreichte das Boot seine Höchstgeschwindigkeit. Für Autofahrer mochten 37 Meilen die Stunde nicht schnell sein, aber auf Gewässer, trotz ruhigem Seegang auf dem Somerset Reservoir, war die Fahrt ein Auf und Ab und glich nicht minder der Querfeldeinfahrerei, die sie gerade mit dem Ranger hinter sich gebracht hatten.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Hawkes.
Vigilante steuerte das Sportboot nach Nordosten. Er musste keine Rücksicht auf Verkehr nehmen. Die meisten Kanuten und Ruderer hielten sich im südlichen Bereich des Sees auf und Sportfahrer mit kleinen Motorbooten wie Vigilantes verirrten sich eher am Wochenende in diese Region.
»Ist das was mit dem Motor?«
Vigilante hörte das Geräusch inzwischen auch. Ein tiefes Brummen mischte sich unter das Röhren des Außenborders und das Klatschen des Rumpfs auf Wasser. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er blickte nach oben und suchte auf einen Verdacht hin den Himmel ab. Dann sah er ihn: einen kleinen Punkt, der von Südosten schnell näher kam.
Vigilante presste die Lippen zusammen und rollte mit den Augen. »Echt jetzt?«
»Was denn?«
Er deutete auf den rasch größer werdenden Punkt am Himmel, aus dem sich jetzt die Konturen eines Jet Rangers schälten.
»Glauben Sie, die gehören dazu?«
»Wir werden es gleich wissen.« Er wollte noch mehr Schub auf den Motor geben, doch der Regler war bereits bis am Anschlag. Mehr war aus der kleinen Boston Whaler nicht herauszuholen.
Während sie über den See fegten, beobachtete Vigilante das Näherkommen des Hubschraubers. Eine zivile Maschine. Die Kennzeichen waren entfernt worden. Zu ihrem Glück sah er keine Waffenträger. Dafür stand allerdings eine Seitentür offen und darin hockte eine Gestalt mit unverkennbar einer Waffe in den Händen.
»Halten Sie den Kopf unten. Wenn ich es Ihnen sage, nehmen Sie das Steuer. Sie müssen nichts weiter tun, als das Boot geradeaus zu steuern.«
»Das sollte ich hinbekommen. Was haben Sie vor?«
Statt zu antworten, griff Vigilante in den Rucksack und zog die MP7 mit zwei zusätzlichen Magazinen hervor. Er vergewisserte sich, dass das im Schaft steckende mit Munition gefüllt war, schob es zurück in den Griff und lud die Waffe durch. Danach zog er die Schulterstütze aus, ließ sie einrasten und warf einen prüfenden Blick durch das auf der oberen Schiene montierte Rotpunktvisier.
»Okay, übernehmen Sie das Steuer.«
Sie wechselten die Plätze. Vigilante kletterte über den Steueraufbau nach vorn, kniete sich dort hin und legte einen Ellbogen auf die Reling auf. Das Boot holperte und wackelte zu stark, als dass er ruhig zielen konnte, aber ein ähnliches Problem würde auch der Schütze an Bord des Hubschraubers haben. Der Hubschrauber holte auf und ging parallel zu dem über das Wasser fegenden Boot in Position. Vigilante sah den Schützen anlegen. Das Gewehr war weder auf einem Stativ aufgestützt noch lang genug für eine Präzisionswaffe. Er konnte es nicht genau erkennen, ging aber davon aus, dass es sich um ein Sturmgewehr handelte. Zudem zielte der Schütze über Kimme und Korn.
Mündungsfeuer blitzte. Vigilante zuckte instinktiv zusammen, doch er sah weder Einschläge im Wasser noch hörte er welche im Bootsrumpf. Wie zu erwarten, sorgte der Aufwind über dem See für einen unruhigen Flug. Aber selbst ein ungeübter Schütze konnte einen Zufallstreffer landen oder sich einschießen. Vigilante spähte durch das Rotpunktvisier. Der kleine farbliche Fleck in der Zieloptik sprang wie wild auf und ab bei jeder Bewegung des Bootes und wollte nicht stillhalten. Wieder blitzte die Mündung des gegnerischen Gewehr auf. Wieder daneben.
Vigilante zog den Abzug zurück. Die MP7 ruckte in seiner Schulter hoch. Er verriss den Lauf und konnte nicht einmal ahnen, wohin der Feuerstoß gegangen war. Er legte den Schalter von Dauer- auf Einzelschuss und startete einen weiteren Anlauf. Der rote Punkt tanzte hoch und runter, nach links, nach rechts, aber zumindest blieb der Hubschrauber im Schussbereich. Vigilante feuerte. Er machte kurze Pausen zwischen den einzelnen Schüssen und sah, wie von vier Kugeln drei in den Rumpf des Helis einschlugen oder zumindest davon abprallten. Zur Antwort sah er wieder das Mündungsfeuer des Gegners. Diesmal hatte sein Angriff Erfolg. Eine Salve strich über den Bootsrumpf und stanzte daumendicke Löcher ins Material.
Plötzlich spürte Vigilante den Boden unter den Füßen verlieren, als der Boston Whaler abrupt abgebremst wurde. Rasch hielt er sich an der Reling fest und warf Hawkes einen Blick zu. Der Hubschrauber rauschte an ihnen vorbei.
»Worauf warten Sie?«, rief Hawkes.
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