Herwig hatte zwölf Puffer verdrückt und damit sicher mehr gegessen als üblicherweise, denn er erhielt sie ja umsonst. Auch trank er mehrere Gläser Pils (0,25 l), von dem damals eines – übrigens bis zum Mauerfall – nur einundfünfzig Pfennige kostete. Den pseudowissenschaftlichen Studentenstreich haben wir noch oft erwähnt und unter den Zuhörern stets allseitiges Lachen, meist verbunden mit leichtem Kopfschütteln, ausgelöst.
Leo Trotzki
Im Jahre 1956 erstand ich zu meiner großen Überraschung in der Universitätsbuchhandlung in der Langen Reihe in Greifswald das in der BRD editierte Buch von Jawaharlal Nehru „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, das er als Häftling für seine Tochter Indira Gandhi geschrieben hatte. In ihm fand ich ein Testament W. I. Lenins aus dem Jahr 1922/23, das in der DDR nicht bekannt war oder geheim gehalten wurde. Darin wurde von Lenin der in der SED angefeindete und 1940 von der Tscheka in der Nähe von Mexiko-City ermordete Leo Trotzki als der fähigste Mann im ZK der russischen Kommunisten betrachtet und für die leitende Funktion nach Lenins Tod als privilegiert angesehen, während J. W. Stalin aufgrund seiner Grobheit und Launenhaftigkeit als weniger geeignet erschien.
Ich wandte mich daraufhin an den Politoffizier Oberst Herold und bat ihn um eine Erklärung dieses mir bis dahin völlig unbekannten Sachverhalts, womit ich buchstäblich in ein Wespennest getreten war. Trotzkis bedeutende Rolle während der russischen Oktoberrevolution und in der unmittelbaren Zeit danach wurde in der DDR stets geleugnet und er wurde ähnlich wie ein gefährlicher „Volksfeind“ angesehen. Ausgerechnet Lenin, der politische Halbgott (oder besser Übervater?) der Kommunisten, sollte diesen von der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) geächteten Gegner der Partei gelobt haben. Ich brachte damit die „führenden SED-Genossen“ der Militärmedizinischen Sektion in Greifswald, allesamt Altstalinisten, in arge Erklärungsnot und hatte sie buchstäblich kalt erwischt. Dass sie in der Folgezeit für mich kaum noch Sympathie empfinden würden, war mir klar. Für die Partei war ich künftig so etwas wie ein rotes Tuch. Doch Pandit Nehru war der Gründungsvater der Blockfreien, die in der DDR damals gut angesehen waren. Ich lobte ihn, so gut ich konnte. Und das meinte ich durchaus ehrlich.
Eine Blockfreiheit für ein wiedervereinigtes Deutschland analog zur Republik Österreich (1955) hätte ich mir schon 1952, dem Jahr der Stalin-Noten, durchaus gewünscht, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Sowjetunion das Uranvorkommen in der DDR nicht weiterhin ausbeuten wollte. Somit hielt ich den sowjetischen Vorschlag, der auf eine Neutralität Gesamtdeutschlands ausgerichtet war, wohl eher für eine Farce. Nebenbei bemerkt: Eine Antwort auf meine vermutlich als provokant angesehene Frage erhielt ich von den Politoffizieren nie.
Die „Falle“ – unsere Studentengaststätte
Die älteste und traditionsreichste Studentenkneipe Greifswalds war die „Falle“. Wegen der zahlreichen historischen Bilder an den Wänden und der interessanten Gäste – meist Studenten anderer Fachrichtungen – war sie auch bei uns sehr beliebt. Allerdings sollten wir als ehemalige Studenten der Kasernierten Volkspolizei (KVP), damals einer Neuheit in der Universitätsstadt, sie nach Ansicht unserer Dienststellenleitung nicht betreten. Sie befand sich in der Fischstraße 8, ihr damaliger Inhaber war Bruno Krauskopf. Irgendjemand musste Lothar, Herwig, Kay und mich, alle vier stolze, frisch gekürte „Kandidaten der Medizin“ des fünften Semesters, dazu motiviert haben, an diesem Ort der reichen Studententradition etwas Schriftliches zu hinterlassen. Tatsächlich trugen wir uns mit einem frivolen Trinkspruch in ein uns vorgelegtes Album der sehr schönen Gaststätte ein:
„Gryps, 29.1.56
Der Herr, der die Bäume begipfelt,
der Herr, der die Männer bezipfelt,
der Herr, der die Frauen gespalten,
lang möge er uns diesen Trunk erhalten.
Prostata, Prostata, es lebe die Gebärmama!
cand. med. Herwig Zichel
cand. med. Kay Blumenthal
cand. med. Lothar Peter
cand. med. Heinz Schneider (ein Dunkles)“
Nach über 55 Jahren konnten wir uns – mittlerweile hochbetagte Altersrentner – nicht einmal im Ansatz mehr an das Ereignis der schriftlichen Fixierung des lustigen Trinkspruchs erinnern. Erst der Medizinhistoriker Prof. Günter Ewert, ein einstiger Kommilitone aus dem damaligen dritten Semester, fand in einem kurzfristig von einem Kollegen ausgeliehenen Buch des einstigen Fallenwirts unsere damalige Eintragung auf gelbem Albumpapier. Als wir unseren Frauen kürzlich stolz diesen Trinkspruch präsentierten, hielten sie den Inhalt für „typisch schweinisch“. Da die Schrift eindeutig als uns zugehörig erkennbar war, konnten und wollten wir unsere Mittäterschaft an der Eintragung des Reims auch nicht leugnen. Insgeheim waren wir selbst als alte Männer sogar etwas stolz auf dieses wiederentdeckte unbekannte Schriftstück aus längst verflossener Jugendzeit, die leider nie mehr zurückkehrt.
Wie die damals sicher recht fröhliche Zeche aussah und endete, wissen wir heute nicht mehr. Auch ist uns der Verfasser des gut formulierten Gedichts unbekannt, während die letzten Zeilen mit den geschlechtsdifferenten Sexualorganen Prostata und Gebärmama sicher von uns selbst stammten.
Noch heute denken wir gerne an die schöne Hansestadt Greifswald zurück, in der wir von unseren tüchtigen Professoren nicht nur eine sehr gute, praxisorientierte Ausbildung erhielten, sondern auch eine schöne Studentenzeit erleben durften, an die wir mit großer Freude zurückdenken. Manche von uns fanden hier auch ihr persönliches Glück, eine Greifswalderin, eine zuverlässige Partnerin fürs Leben.
„Briefe ohne Unterschrift“
Ende 1957 kaufte ich mir ein neues Radio mit einem schönen Holzgehäuse aus dem Volkseigenen Betrieb (VEB) Stern-Radio Staßfurt, Preis 560 Mark. Ein wirklich wunderschönes Gerät mit einer hohen Klangqualität und einem sehr guten Empfang. Ich war außerordentlich froh über diese Anschaffung, mit der ich viele Sender kristallklar empfangen konnte.
Nach zwei Wochen erschien Heinz X. (Name anonymisiert), ein verheirateter Mitstudent, der in der Stadt Greifswald und nicht in der Dienststelle wohnte und von mir über das Empfangsverhalten des Gerätes informiert werden wollte. Er hätte gehört, was für ein toller Apparat das sei. Heinz gab vor, sich ebenfalls für ein gleiches Gerät zu interessieren und es kaufen zu wollen. Er bewunderte laufend die Trennschärfe und sprach: „Sechs Röhren, neun Kreise, was für ein Apparat.“ Ich stellte ihm – seinem Wunsch entsprechend – „Radio Moskau“ ein und spürte seine Begeisterung. „Kannst du auch Radio Warschau hören?“ Natürlich konnte ich das. Danach kamen noch einige von ihm gewünschte Ostblocksender an die Reihe, die ich alle prompt herbeizaubern konnte. Selbst Radio Peking war in deutscher Sprache, allerdings erst nach 1961, auf diesem Gerät im Kurzwellenbereich kristallklar zu empfangen.
Nachdem er einige westdeutsche Sender eingestellt haben wollte, ein Wunsch, den ich ihm gern erfüllte, fragte er: „Kannst du auch Radio London hören?“ Immer wieder bewunderte er die Trennschärfe. Ich zögerte nicht, ihm auch diesen, von ihm gewünschten Sender einzustellen. „Bumm, bumm – bumm, bumm – hier spricht London, wir bringen für Sie ‚Briefe ohne Unterschrift‘, eine Sendung für die Sowjetzone.“ Ob er ein exaktes Timing geplant hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war diese Sendung bei den SED-Funktionären extrem unbeliebt. Er erkundigte sich noch einmal nach dem Preis und hörte mit mir die ganze Sendung an und ich merkte, wie froh er war. Viele Hörer hatten – scheinbar in Briefen ohne Unterschrift – an Radio London geschrieben und berichteten über echte oder vermeintliche Missstände in der DDR. Ich war naiv und ahnte damals nicht, dass dieser „Genosse“ nicht an der Trennschärfe und dem Preis des Gerätes interessiert war, sondern nur wissen wollte, welche Sender ich empfangen könnte und möglicherweise empfangen habe.
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