»All das hat vor ein paar Sekunden noch völlig anders ausgesehen«, murmelte er vor sich hin.
Doch er bekam keine Antwort.
Als er sich erneut umdrehte, musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass er wieder alleine war. Ein weiterer schneller Blick in die Bucht hinunter zeigte ihm abermals das Schreckensszenario mit den grauen Partikeln und dem schwarzen Loch.
Langsam ließ er sich auf die Knie nieder und presste seine Hände an den Kopf. Er schloss die Augen, in der Hoffnung, es wäre alles in Ordnung, wenn er sie wieder öffnete. Doch er spürte den kühlen Wind in seinem Rücken, was ihm bestätigte, dass die Luft weiterhin vom dunklen Loch angezogen wurde.
Sich am Geländer festhaltend rappelte er sich wieder hoch und öffnete die Augen. Zu beiden Seiten, sich ebenfalls am Geländer festhaltend, standen seine Freunde und starrten entsetzt in die Whiting Bay hinunter.
»Seht ihr es auch?«, rief er ihnen zu. Aber sie beachteten ihn nicht.
Er machte eine Drehung und wollte Michelles Handgelenk umfassen. Doch der Griff ging ins Leere, worauf er beinahe das Gleichgewicht verlor hätte und zu Boden gefallen wäre. Im letzten Moment konnte er sich mit der anderen Hand am Geländer festhalten und den Sturz verhindern. Dabei hätte er unweigerlich mit Michelle zusammenstoßen müssen. Aber er war durch sie hindurchgedrungen, als wäre sie nur eine Projektion.
Christopher war nun nahe daran, den Verstand wirklich zu verlieren. Wie konnte das alles sein? Vorhin hatte sie noch mit ihm gesprochen. Aber da war die Umgebung auch in Ordnung gewesen.
Kurz darauf sah er, wie sich seine Freunde umdrehten und ohne ihn zu beachten zum Haus zurückgingen. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich das blanke Entsetzen. Anscheinend konnten sie nun auch sehen, was sich unten in der Bucht abspielte.
Plötzlich streckte Michelle ihre Hand aus und zeigte mit dem Finger in Richtung des Geschehens.
Christopher drehte sich um und erkannte den Grund dafür. Die grauen Partikel bedeckten mittlerweile die Steilküste und breiteten sich auf der kargen Wiese immer weiter in ihre Richtung aus. Das Loch hatte sich weiter vergrößert. Zudem konnte er an dessen Rand erkennen, wie die grauen Partikel hineingezogen wurden. Der ganze Vorgang beschleunigte sich zusehends.
Sie mussten sofort von hier verschwinden! Es fragte sich lediglich, ob sie sich schnell genug entfernen konnten, um von dem sich ausbreitenden Loch nicht eingeholt zu werden.
»Wir müssen abhauen!«, schrie er seinen Freunden zu, obwohl er vermutete, dass sie ihn weder sehen noch hören konnten.
Doch als ob es diesen Aufruf nicht gebraucht hätte, wandten sich seine Freunde nach Osten und rannten über den Vorplatz, anschließend den Weg hinauf zur Hochebene und von dort aus weiter ins Landesinnere. Christopher folgte ihnen umgehend.
Als er sich nach einigen Metern umdrehte, musste er mit Entsetzen feststellen, dass das Dach des Bungalows bereits mit grauen Partikeln überzogen war. Die Oberfläche begann sich zu verformen. Wenig später stürzte der Bungalow in sich zusammen und verschwand vollständig von der Bildfläche. Als nächstes erging es der Böschung hinter dem Bungalow ebenso. Die grauen Partikel hatten die Hochebene erreicht und breiteten sich immer schneller aus.
Christopher drehte sich um und rannte weiter. Seine Freunde hatten in der Zwischenzeit einen beträchtlichen Vorsprung herausgeholt. Er beschleunigte und holte sie nach kurzer Zeit ein.
Ernest bekundete am meisten Probleme. Sein Atem ging schwer. Als er den Anschein erweckte stehenzubleiben, wurde er von Michelle und Keyna an den Oberarmen gepackt und weitergezogen.
Christopher rannte nun gleichauf mit seinen Freunden, obwohl sie ihn nicht wahrnahmen. Es sah aus, als lebten sie in zwei verschiedenen Welten.
Ein erneuter Blick zurück ließ ihn zusammenfahren. Von der Bucht, ja sogar von der gesamten Küste, war nichts mehr zu sehen. Die grauen Partikel hatten sich weit in die Hochebene hineingefressen und näherten sich ihnen immer schneller. Ihr Vorsprung verringerte sich zusehends.
Christopher rannte unerbittlich weiter, spürte aber mehr und mehr ein Brennen in seinen Lungen. Es war hoffnungslos. Bald würde ihnen allen die Kraft fehlen weiterzurennen.
Noch ein Blick zurück. Und wieder hatte sich ihr Vorsprung verringert.
Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven und versuchte zu beschleunigen. Ein Seitenblick zeigte ihm, dass seine Freunde langsamer wurden. Wie gerne hätte er ihnen geholfen, aber er wusste, dass dies nicht möglich war.
Plötzlich begann der Boden zu vibrieren. Erschrocken blickte er zurück und stellte fest, dass die grauen Partikel unmittelbar hinter seinen Freunden waren. Er selbst hatte sich mittlerweile einen kleinen Vorsprung erarbeitet, kam jedoch zur bitteren Erkenntnis, dass ihm dies nicht viel helfen würde.
Als erste erwischte es Keyna, die leicht zurückhängend neben Ernest lief. Gleich darauf traf es ihn.
Verzweifelt musste Christopher mitansehen, wie die beiden von den grauen Partikeln erfasst wurden und sich langsam auflösten. Er sah das Entsetzen in Michelles und Nehas Gesichtern, als die beiden realisierten, dass es ihnen gleich auch so ergehen würde.
Christopher verlangsamte seinen Lauf und ließ Michelle und Neha herankommen. Instinktiv wollte er beide zum letzten Mal in die Arme nehmen.
Doch dazu kam es nicht mehr. Kaum zwei Meter von ihm entfernt wurden sie von den Partikeln eingeholt. Langsam kroch das hässliche Grau an ihren Beinen empor aufwärts. Die beiden Frauen blieben stehen, konnten sich nicht mehr bewegen. Die Partikel krochen weiter nach oben, erreichten Schultern und Hals und begannen, sich auf den Gesichtern zu verteilen.
Christopher blickte ihnen abwechselnd in die Augen und erkannte darin blankes Entsetzen. Er machte einen Schritt auf sie zu, doch Michelle hob langsam ihren Arm, oder das, was noch davon übrig war, als wollte sie ihm mitzuteilen, er solle sich auf Distanz halten.
Er stand unmittelbar vor ihnen, als sich ihre Blicke zum letzten Mal trafen. Als er kurz darauf in die dunklen, leeren Augenhöhlen seiner Freundinnen sah, stieß er einen markerschütternden Schrei aus, sank auf die Knie und wurde von Weinkrämpfen erschüttert. Durch den Schleier seiner tränenerfüllten Augen sah er den hässlichen grauen Teppich, der an seinen Beinen emporkroch.
11.
Bruder Steven saß auf dem Dach seines Bodengleiters und rauchte einen Joint. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten, entfaltete sich kurz nachdem er ihn angezündet und die ersten Züge inhaliert hatte, und vermittelte ihm ein Gefühl der Unbeschwertheit. Auch die anfänglichen Schmerzen in den Beinen, die er für gewöhnlich verspürte, wenn er im Schneidersitz saß, wurden in den Hintergrund verdrängt. Er fühlte sich leicht, als wenn er gleich abheben würde.
Die Scheinwerfer der verschiedenen Gleiter, die zur späten Abendstunde auf der nahegelegenen Avenue vorbeibrausten, verwandelten sich mehr und mehr in bunte, leicht verschwommene Linien. Wie er diesen Moment genoss!
»Meditierst du?« Die Stimme schien von weither zu kommen.
Langsam drehte er den Kopf und erkannte die Silhouette von Master Antonius in der Tür. Steven hob kurz die Hand und richtete seinen Blick erneut auf den Highway. Er mochte es nicht, bei seinem abendlichen Ritual gestört zu werden.
Als Leiter der Bruderschaft stand Master Antonius weit über ihm. Eigentlich hieß er Anthony. Aber seit er der Bruderschaft beigetreten war, wollte er ausschließlich Antonius genannt werden.
Beim Gedanken, wie er selbst heißen würde, wenn er seinen Namen auf dieselbe Weise änderte, musste er laut lachen. Stevius. Wie bescheuert klang das denn! Die Wirkung des Joints bescherte ihm einen länger anhaltenden Lachanfall.
Stevens Blick richtete sich in die Ferne. Dadurch wirkten die farbigen Linien, die durch die vorbeigleitenden Fahrzeuge verursacht wurden, noch verschwommener. Er hatte das Gefühl, die Sterne am Himmel würden sich stetig vermehren. In der mondlosen Nacht waren sie besonders deutlich zu sehen.
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