»Selbstverständlich. Und wenn ich den Namen Siemens aus Ihrem Mund noch einmal höre, sind Sie in den nächsten zehn Jahren von jeglicher Beförderung ausgeschlossen.«
Hermann Mahlgast trug den Anzug, den ihm seine Eltern im letzten Jahr zur Einsegnung geschenkt hatten, und war von seiner Tante so hergerichtet worden, dass er älter als fünfzehn aussah. Liesbeth Cammer saß für ihr Leben gern in einem Café, doch Damen war es generell verboten, ohne Männerbegleitung ein solches zu betreten. Um diese Vorschrift zu umgehen, hatte sich ein besonderer Berufsstand herausgebildet: der des Damenbegleiters, auch »Bärenführer« genannt. Der bezahlte Begleiter erhielt fünfzig Pfennige und einen Kaffee. Dieses Honorar wollte sich Liesbeth Cammer ersparen, indem sie sich, wann immer es ging, ihren Neffen ausborgte.
Für Hermann Mahlgast waren diese Ausflüge einerseits immer eine fürchterliche Pein, andererseits jedoch genoss er durchaus den erotischen Kitzel, sich an der Seite einer schönen Frau zu bewegen und für deren Gigolo gehalten zu werden. Natürlich verbot er sich, an das zu denken, was ein Gigolo seiner Dame ganz speziell zu bieten hatte, doch je strenger er mit sich verfuhr, desto weniger ließen sich seine Regungen unterdrücken. Besonders heftig errötete er, wenn seine Tante sagte, er sehe ihrem verschwundenen Mann Germanus Cammer immer ähnlicher.
So geschah es auch im Café Bauer. »Ganz der Germanus, wie ich ihn als jungen Mann kennengelernt habe.«
Hermann Mahlgast versuchte, sich hinter der riesigen Getränkekarte zu verstecken. »Drei Jahre ist es nun schon her, dass er …«
»Er wird nach Amerika gegangen sein und dort sein Glück versucht haben.« Für Liesbeth Cammer war diese Annahme das beste Mittel, um über ihre Depressionen hinwegzukommen.
Hermann Mahlgast suchte nach Gesprächsthemen, die unverfänglicher waren. »Hast du von dem hungrigen Mann gelesen, der einem Ziehhund das Futter aus dem Napf gestohlen und aufgegessen hat?«
»Ja. Es ist schon ein Elend. Ich schreibe gerade an einem Artikel über Mütter, die Anzeigen aufgeben, um ihre Kinder zu verkaufen. Gestern habe ich mit einer Witwe gesprochen, die gleich vier ihrer sieben Kinder abgeben wollte – die Wohnung war viel zu klein für alle.« Sie musterte ihren Neffen. »Liest du eigentlich auch Heidi ?«
»Nein, das ist doch nur was für Mädchen.«
»Schade. Gerade hat Johanna Spyri ihren neuen Roman veröffentlicht: Heidis Lehr- und Wanderjahre . Wie willst du denn deine Lehr- und Wanderjahre verbringen?«
»Ach …« Hermann Mahlgast senkte den Kopf.
Seine Tante lachte. »Ich weiß schon: in die Fußstapfen meines Germanus treten und bei Siemens Hochbahnen bauen.«
»Erst muss ich ja mal zum Militär und dann studieren.«
»Wie kommst du denn mit der Schule zurecht?«
»Danke, gut.« Das war leicht untertrieben, denn Hermann Mahlgast galt in seinem Gymnasium geradezu als Musterschüler. Er wusste, dass er sich alles erarbeiten musste, und so bereitete er sich auf jede Unterrichtsstunde gewissenhaft vor, ließ keine Hausaufgabe unerledigt, lernte alle Vokabeln, übte sogar in der Obertertia noch Schönschrift. Sein Verhalten gab nie Anlass zu Klagen. Den Lehrern gegenüber legte er den Gehorsam an den Tag, den sie erwarteten, ohne sich aber dabei demütig zu geben oder ihnen zu schmeicheln, und seinen Mitschülern gegenüber war er ein guter Kamerad, beliebt vor allem dadurch, dass er den Schwächeren nach Kräften half. So kam er nie in den Ruf, ein Streber zu sein. Sich mit ihm anzulegen wagte ohnehin niemand aus seiner Klasse, denn er war stämmig gebaut und konnte so gut turnen, ringen und boxen wie kein Zweiter. Demnächst wollte er in einen Ruderverein eintreten.
»Was liest du denn gerade?«, wollte seine Tante als Nächstes wissen.
Hermann Mahlgast druckste ein bisschen herum. »Am liebsten etwas über Technik.«
Liesbeth Cammer war darüber nicht sonderlich begeistert und hielt ihm einen längeren Vortrag über Dichter der neueren Zeit, die er unbedingt lesen müsse. »Ferdinand Freiligrath – diese wunderbare Naturmalerei …«
Nach unendlich langen Minuten des literarischen Exkurses hörte Hermann Mahlgast schon gar nicht mehr zu. Literatur langweilte ihn, einzig Naturwissenschaften und Technik zählten für ihn. Nach einer guten Stunde war das gemeinsame Kaffeetrinken beendet, und seine Tante entließ ihn wieder. Er konnte nach Hause laufen, während sich Liesbeth Cammer in den Geschäften nach neuer Garderobe umsehen wollte.
In der Belle-Alliance-Straße ging er ganz langsam die Treppe hinauf. Wenn er Glück hatte, kam ihm Emilie entgegen. Sie war so alt wie er, und schon seit Wochen saß er in seiner Kammer und versuchte, ihr einen Liebesbrief zu schreiben. Aber nie war er mit einem Entwurf zufrieden, immer wieder zerriss er das Briefpapier, das aus den Vorräten seiner Mutter stammte. Noch weniger wollte ihm ein Gedicht gelingen. Er war eben kein Poet. Auch ein Aquarell, das er für sie gemalt hatte, eine romantische Felsschlucht, wagte er nicht, in ihren Briefschlitz zu stecken. Zum einen erschien es ihm nicht vollkommen genug, zum anderen war zu befürchten, dass es ihre Mutter fand. Was er aber wirklich gut zeichnen konnte, waren Lokomotiven und Brücken, die er nach real existierenden Vorbildern zu Papier brachte, und Hochbahnzüge, diese aber weithin als Phantasieprodukte. Aber das war doch nichts, womit er einem jungen Mädchen imponieren konnte.
Er hatte Pech und bekam Emilie nicht zu Gesicht. Seine Mutter war nicht zu Hause, und Minna hatte in der Küche zu tun. So konnte er sich auf sein Bett werfen und sich seinen Träumen hingeben. Seine Tante und Emilie verschmolzen zu einer Person. Minna wunderte sich zwar, warum in letzter Zeit so viele Taschentücher verschwanden, aber anders ließ sich das Problem nicht lösen. Um sie milder zu stimmen, machte er sich anschließend daran, einen Flaschenzug zu konstruieren, der es ihr ersparen sollte, den schweren Einkaufskorb nach oben zu schleppen, hoch in die dritte Etage. Er war sehr stolz auf sein Patent. Eine zwei Meter lange Dachlatte war so am Balkongitter befestigt, dass man sie im Ruhezustand und von der Straße aus kaum erkennen konnte. Sollte sie eingesetzt werden, konnte man sie ausfahren. Vorn hingen die beiden Rollen, über die eine zehn Meter lange Wäscheleine verlief. Unten war ein Fleischerhaken befestigt. Hermann rief das Dienstmädchen und erklärte ihm die Vorrichtung.
»Ich warte oben auf dem Balkon, bis du vom Einkaufen zurückkommst. Wenn du unten stehst, brauchst du deinen schweren Einkaufskorb nur einzuhaken – und ich ziehe alles nach oben.«
»Junge, du bist der geborene Ingenieur!«
Hermann Mahlgast freute sich sehr über diese Aussage, und am liebsten hätte er den elektrischen Aufzug, den Werner Siemens für die Gewerbeausstellung in Mannheim konstruiert hatte, auf der Rückseite ihres Mietshauses nachgebaut.
Minna, die auf die vierzig zuging, hatte es im Kreuz und ließ sich von seiner Mutter ständig mit Franzbranntwein einreiben. So war sie froh und glücklich über Hermanns Erfindung und stürzte schon los, um beim Kolonialwarenhändler einiges einzukaufen und alles auszuprobieren. »Ich kann es gar nicht erwarten.«
Lange stand Hermann Mahlgast dann auf dem Balkon, um Minna nicht zu verpassen. Insgeheim hoffte er auch, sein Vater würde früher nach Hause kommen und so Zeuge seiner Vorführung werden. Mit ihm kam er blendend zurecht, denn er ließ ihm in allem freie Hand, solange sein Handeln und Unterlassen nicht gegen die geltenden Normen verstieß. Sie waren beide ähnliche Charaktere, gutmütig und behäbig, und da Gustav Mahlgast mit sich und der Welt zufrieden war, gab es keinen Grund für ihn, an seinem Sohn herumzumäkeln.
Ganz anders die Mutter. Mit der lag er andauernd verquer, denn sie hatte sich ihren Sohn ganz anders vorgestellt: temperamentvoller, nicht so märkisch, sondern eher südländisch, nicht bieder, sondern elegant, nicht wortkarg, sondern sprühend vor Witz, kein Klotz, wenn getanzt wurde, sondern in den Bewegungen federleicht wie ein Solotänzer des Staatsballetts. Auch seinem Wunsch, Ingenieur zu werden, konnte sie nichts abgewinnen, sie hätte ihn viel lieber im diplomatischen Dienst gesehen. »Mein Sohn ist gerade Vortragender Legationsrat geworden und für den Botschafterposten in London im Gespräch. Gestern war er zur Gratulationscour Seiner Majestät im Weißen Saal des Stadtschlosses.« Dass er ihr dieses Glück nicht gönnen wollte, nahm sie ihm übel.
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