»Keinen«, kam die Antwort von Berbelin, der Frau des Gaufürsten, die zu ihnen getreten war.
Ulric lachte. »Na, dann müssen wir schnell einen finden. Was schlagt ihr denn vor?«
»Semnonennest«, sagte Linus.
»Spreefurt«, schlug seine Frau vor.
Ulric fand beides nicht überzeugend. »Wie wäre es denn mit euren Namen?«
»Linusrode, Linusleben …«
»Berbelinenburg, Berbelinendorf …«
»Nehmt lieber einen Ortsnamen, in dem ihr beide vorkommt: Linus und Berbelin. Linber … Zugegeben, das klingt blöd. Vielleicht eher umgekehrt: Berlin .«
»Gut, Berlin also.«
Sie freuten sich und bewirteten Ulric von Huysburg mit allem, was sie in ihren Vorratskammern hatten. Gern hätten sie ihm auch ein Pferd gegeben, doch sie besaßen keines. So blieb ihm nur zu versuchen, Spandow zu Fuß zu erreichen.
»Der Weg ist nicht weit, aber sehr gefährlich, denn hier am Ufer wimmelt es von giftigen Schlangen.«
Ulric nahm Abschied von seinen liebenswerten Berliner Schrumpfgermanen und machte sich auf den Weg nach Spandow, das er gegen Abend zu erreichen hoffte. Doch das Wetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Erst sah es so aus, als würde das Gewitter vorüberziehen, dann brach es mit einer solchen Urgewalt über ihn herein, dass er zu beten begann: Eile, Herr, mir zu helfen! Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele. Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen. Wer auch immer den 69. Psalm geschrieben hatte, er musste Ähnliches durchgemacht haben. Gewaltige Blitze schlugen links und rechts von Ulric von Huysburg in die Bäume ein und spalteten die Stämme, und ein sintflutartiger Regen setzte ein.
Als alles vorüber war und er es wagen konnte, seinen Weg fortzusetzen, war das Flüsschen, das er nach ein paar Schritten erreichte, die Panke, zu einem reißenden Strom geworden, den er nicht mehr überwinden konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass er mitgerissen wurde und ertrank. So blieb ihm nichts übrig, als erst einmal nach Norden zu laufen und einen nicht unbeträchtlichen Umweg in Kauf zu nehmen.
Irgendwann wusste er nicht mehr, wo er war, und hatte das Gefühl, nur noch im Kreis herumzulaufen. An der Sonne konnte er sich nicht orientieren, denn der Himmel blieb dunkel und verhangen, und das Moos an den Baumstämmen wuchs ringsum, so dass sich eine Wetterseite nicht erkennen ließ. Als es Abend wurde, war er der Verzweiflung nahe. Schön, zu verdursten brauchte er nicht, und zum Essen gab es genügend Beeren und andere wilde Früchte, aber er war kein Urmensch und meinte, dass er sich den Tod holen würde, wenn er völlig durchnässt im Freien übernachten musste.
Auf einer Lichtung angekommen, blieb er stehen und begann zu schnüffeln, wie ein Tier, das Witterung aufnahm. Es hing Rauch in der Luft, und er glaubte, Stimmen zu hören. War er auf seinem Irrweg doch in die Nähe Spandows gelangt? Oder lag vor ihm eine slawische Siedlung? Nun, die Zeiten waren so, dass man im Feindesland immer mit dem Schlimmsten rechnen musste, also ging er nicht offen auf die Leute zu, die da versammelt waren, sondern schlich sich an.
Was er vorfand, war kein Dorf, sondern nur ein Lagerplatz. Am Feuer, das wegen des nassen Holzes nicht richtig brennen wollte, erkannte er etwa zwanzig Männer. Sie sprachen laut miteinander – wen sollten sie auch fürchten? Das war Polabisch, und wenn er es richtig deutete, dann waren es Wilzen, die er vor sich hatte. Sie mussten von Havelberg oder von Demmin gekommen sein. Derjenige, der das große Wort führte, hieß Milegost, wie Ulric von Huysburg bald herausfand, sein Gesprächspartner Cealadrag, ein Dritter Liub.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Cealadrag.
»Wir bringen ihn nach Havelberg und versuchen, ein möglichst hohes Lösegeld für ihn zu bekommen«, antwortete Milegost.
Liub winkte ab. »Seine Leute treffen wir doch nicht in Havelberg, die sitzen doch in Italien oder weiß ich wo.«
»Unsinn!«, rief Milegost. »Ahmad at-Tawil ist ein berühmter Mann, und für den wird ihnen kein Weg zu weit sein.«
Jetzt erst bemerkte Ulric von Huysburg, dass am Rande des Lagers ein Mann lag und von einem Wilzen bewacht wurde, obwohl man ihn offensichtlich gefesselt hatte. Araber waren in der Nordmark sicherlich selten, aber Ulric erinnerte sich daran, einen Reisebericht gelesen zu haben, den der arabische Gesandte Ibrahim ibn Jakub um 973 geschrieben hatte. Einzelne Passagen hatte er sogar noch im Kopf:
Im Allgemeinen sind die Slawen unverzagt und streitlustig; und wenn sie nicht untereinander uneins wären, infolge der mannigfaltigen Verzweigung ihrer Stämme und Zersplitterungen ihrer Geschlechter, so würde sich kein Volk auf Erden mit ihnen messen können. Die von ihnen bewohnten Länder sind die fruchtbarsten und reichsten von allen, und sie legen sich mit Eifer auf den Ackerbau und andere Zweige von Betriebsamkeit dazu, worin sie alle nordischen Völker übertreffen. Ihre Waren gehen zu Lande und über See zu den Russen und nach Constantinopel … In dem ganzen Norden ist Hungersnot nicht die Folge vom Ausbleiben des Regens und von anhaltender Dürre, sondern vom Überflusse an Regen und von anhaltend hohem Wasserstande. Regenmangel gilt bei ihnen nicht für schädlich, indem sie der Feuchtigkeit des Bodens und der großen Kälte halber deswegen keine Sorge hegen. Sie säen in zwei Jahreszeiten, im Sommer und im Frühling, und ernten zweimal. Dasjenige, was sie am meisten bauen, ist Hirse. Die Kälte ist bei ihnen der Gesundheit zuträglich, auch wenn sie heftig ist, die Wärme dagegen schädlich. Sie können in die Langobardischen Lande nicht reisen wegen der Hitze, welche dort groß ist und die Slawen umbringt … Ihr Wein und kräftiger Trank wird aus Honig bereitet.
Ahmad at-Tawil hatte wohl Ibrahim ibn Jakub nacheifern wollen und war dabei in die Hände der Wilzen gefallen. Ulric von Huysburg war seit jeher ein Bewunderer der arabischen Kultur, und so zögerte er keinen Augenblick sich vorzunehmen, diesen Ahmad at-Tawil zu befreien. Da er sich ein paar Monate in Bagdad aufgehalten hatte, konnte er sich auf Arabisch leidlich verständigen.
Er wartete so lange, bis sich die Wilzen zum Schlafen auf ihren Fellen ausgestreckt hatten und das Feuer nur noch glimmte. Einer Schlange gleich kroch er durch das Unterholz und schlich sich von hinten an den Wächter heran. Jetzt hatte die Nässe etwas Gutes, denn es gab kein trockenes Laub, das rascheln konnte. So gelangte er relativ lautlos in die Nähe des Wächters, und der tat ihm auch noch den Gefallen sich hinzusetzen. Ulric brauchte also nicht einmal aufzuspringen, um ihn mit einem gezielten Hieb gegen die rechte Schläfe für ein paar Minuten ruhigzustellen, er konnte das im Knien erledigen. Ahmad at-Tawil fuhr auf und schien nicht recht zu begreifen, was hier geschah.
»Pst!«, machte Ulric und fügte dann auf Arabisch hinzu:»
Komm, ich binde dich los, dann fliehen wir!«
Schnell hatte er dem bewusstlosen Wilzen das Messer aus dem Gürtel gezogen und die Stricke durchtrennt, mit denen man Ahmad at-Tawil gefesselt hatte. Der Araber kam aber nicht so schnell wieder auf die Beine, wie Ulric angenommen hatte, denn durch das lange Liegen waren seine Muskeln erheblich erschlafft und das Blut nicht mehr richtig durch die Adern geströmt. Es ging nicht anders, Ulric musste ihn unter den Achseln packen, hochhieven und versuchen, ihn in den Wald zu schleppen. Wenigstens ein paar hundert Schritte weit, dahin, wo sie die Nacht über in Sicherheit waren. Doch er musste Ahmad at-Tawil ein wenig den Brustkorb eingequetscht haben, denn der Araber begann zu schnaufen und zu husten. Das konnte natürlich bei den Wilzen nicht unbemerkt bleiben, und sofort sprangen einige von ihnen auf und suchten sich zu orientieren. Schnell begriffen sie, was geschehen war.
Читать дальше