Karl-Heinz stierte auf einen Miniatur-Nikolaus, der zeitlos und hässlich neben Oregano-, Safran- und Pfefferdosen auf dem hohen Regal stand.
»Ich war mit Sigi«, er griff sich an die Stirn, »will sagen mit Karl-Heinz in unserer Kneipe. Es war auch ein Kumpel aus alten Zeiten da, und wir haben Wiedersehen gefeiert bis zum Morgen. Du bist mir doch nicht böse, oder?«
Joana unterdrückte ein Lächeln. »Kleine Jungen schlagen manchmal über die Stränge … Ich verzeihe dir ausnahmsweise, aber nur, wenn du bis zum Ende austrinkst.«
Sie reichte ihm den streng riechenden Tee. Karl-Heinz schnüffelte daran, verzog das Gesicht und begann mit Todesverachtung zu trinken. Es geht ja, dachte er und fühlte sich plötzlich von einer Euphorie davongetragen. Es funktioniert tatsächlich.
Schon etwas sicherer bestellte er Sigis unnachahmlichen Hundeblick und richtete ihn auf Joana. Innerlich jauchzend stellte er fest, dass ihre Augen weich wurden und zu glänzen begannen. Sein Blick rutschte tiefer und fiel auf das einladende Dekolleté. Fast entsetzt bemerkte er, dass sie keinen BH trug. Karl-Heinz stellte den Tee ab und verschüttete die Hälfte. Auf einmal überschwemmte ihn eine Welle von Gier. Seine Hand machte sich selbstständig und glitt von Joanas Schulter über den Halsansatz zu dem Tal zwischen ihren Brüsten.
Joana schlug ihn auf die Hand und wies auf den Küchentisch. »Alles austrinken!«, flüsterte sie heiser.
Karl-Heinz trank den Becher in einem Zug leer, verschluckte sich und begann zu husten. Seine Frau schüttelte ungläubig den Kopf. »Du benimmst dich ja, als hättest du eine Woche keine Frau angerührt.«
… Womit du durchaus recht hast, dachte Karl-Heinz, stürzte sich auf sie und riss ihr das bunt gefleckte Kleid von den Schultern.
Sekunden später war er nicht mehr vorhanden. Sigis Körper übernahm die Regie, so als wüsste er im Schlaf, wo Joanas Lieblingsstellen waren, wo er streicheln musste und wo drücken. Er wusste, wann es galt, eine Pause zu machen, um ihren aufgelösten Blick in der Schale des seinen zu fangen und dann unendlich langsam erneut zu spielen; bis sein Bewusstsein sich auflöste in ein Feuerwerk, das er eigentlich erst zu Silvester erwartet hatte.
Sein Freund Sigi machte sich auf den Weg durch Friedrichshain in die Richtung von Karl-Heinz’ Büro. Er hatte es nicht eilig. Die Nachmittagssonne beschien gleichermaßen Wiesen und Bäume, telefonierende Manager, türkische Hausfrauen mit riesigen Tüten und die immer zahlreicher werdenden Bewohner der Straße.
Er ging über die Brücke, die zur Köpenicker Straße führte, schlenderte den Kanal entlang und bewunderte die Ausflugsboote. Unermüdlich pendelten sie von einem Ende der Stadt zum anderen und beförderten Touristen, die gierig den Geschichten über ehemalige Todeszonen und Stacheldraht lauschten. Scharen von Tauben kreisten über dem Wasser und verlangten gurrend, dass man sie bediente. Ein bärtiger Landstreicher teilte seine Brotzeit mit den Vögeln, die ihn aufgeregt umflatterten und versuchten, sich gegenseitig die Brocken wegzuschnappen.
Sigi senkte seine Hand in den ungewohnten Stoff seiner Hose, kramte eine von Karl-Heinz’ Münzen hervor und legte sie dem Mann auf die Decke. Der Landstreicher lockte eine zögerliche Taube, die ihn aus starren Augen anblickte. Er war so in den stummen Dialog versunken, dass er nicht einmal nach oben sah.
Sieben Tage, dachte Sigi. Wenn man dabei war, ein Bild zu malen und nachts davon träumte, etwas zu schaffen, das noch viel mehr war: ein Strudel, in den man absinken konnte und sich in seinen Untiefen verlieren; um dann vielleicht wieder aufzutauchen in einem Blitz des Erkennens – dann konnte eine Woche sehr kurz sein. Wenn man auf einen verlorengegangenen Körper und seine ausgeliehene Frau wartete, war sie wahrscheinlich entsetzlich lang.
Man konnte diese Zeit aber auch wie ein Bild sehen; ein Kunstwerk, das er schuf, indem er es lebte. Ein Lernen und, wer weiß, am Schluss ein Gelingen. Er beschloss, eine vielleicht gerade jetzt unter seinem fremden Körper liegende Joana zu vergessen und horchte nach innen. Er betrachtete seine angespannten Hände mit den hervorstehenden Venen und strich über seine arrogante Nase und den Mund wie ein Blinder, der mit dem Tastsinn sieht; er meinte zu fühlen, wie sein drängendes Blut durch die dünnen Adern strömte. Und er lauschte der fast quälenden Unruhe, die in jeder Faser dieses Körpers pulste. Sein Besitzer, dachte er befremdet, hatte sich zum Erfolghaben verurteilt …
Fast wie von selbst gelangte er nach Kreuzberg und in die Oranienstraße. Wie immer, wenn er hier war, genoss er die an sich unverdauliche Mischung aus Kiez, Kunst und Kommerz; ein schickes indisches Restaurant, das zur Dekoration den halben Palast eines Maharadschas geplündert zu haben schien, lag neben einem nach Kebab duftenden Türkenladen. Die Enklave von Istanbul fand sich nicht weit entfernt von Greenwich Village; gleich daneben stieß man auf Auslagerungen Persiens, Afghanistans, Polens und der Ukraine. Ein Drogensüchtiger konnte hier neben einem Börsianer sitzen, und ein russischer Zuhälter neben einer Beauftragten für Frauenrechte.
Sigi wusste, dass diese Lebendigkeit gegen den Lauf der Zeit ankämpfte. Ein einfacher Laden nach dem anderen gab auf und wich einer Designer-Bar oder einem angesagten Sushi-Imbiss. In ein paar Jahren würden all die schrägen Vögel und Landstreicher, die vergessenen Punks, Literaten und Artisten eine andere trostlose Nische gefunden haben und sie zum Blühen bringen; bis man sie auch von dort wieder vertrieb.
Karl-Heinz hatte gut gewusst, warum er sich hier schon vor Jahren zu einem Spottpreis zwei Wohnungen im gleichen Gebäude gekauft hatte. Es lag am Anfang der Straße etwas abseits vom Rummel. Im Erdgeschoss in der Ladenwohnung hatte er sein Büro eröffnet, und hoch oben unter dem Dach wohnte er, mit fantastischem Blick auf den Fernsehturm und die technokratische neue Welt des Potsdamer Platzes.
Sigi blickte auf die diskreten Edelstahllettern über der Tür: Antiquitäten . Ein flüchtiger Beobachter hätte sie wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. In dem – natürlich mit Alarmanlage versehenen – Schaufenster ruhte das ausgewählte Exemplar einer kleinen Truhe. In winzigen Buchstaben war darunter zu lesen: Wien, circa 1675 . In dem modernen Büroraum selbst wies nichts darauf hin, dass hier jährlich etwa zweihundert erstklassige Antiquitäten den Besitzer wechselten. Sigi seufzte in sich hinein und öffnete die Tür.
Monika, seine Sekretärin, blickte vom Schreibtisch hoch, sah entrüstet auf die Armbanduhr und begann umgehend zu schimpfen. »Ich glaube es nicht. Konntest du nicht einmal anrufen? Den ganzen Vormittag lief hier das Telefon heiß, und ich war nicht in der Lage, jemandem eine vernünftige Antwort zu geben!«
Sigi konnte nicht anders. Er sah in ihren Augen eine mühsam unter Verschluss gehaltene Mischung aus Widerwillen, Verbitterung und Schmerz. Auf Samtfüßen trat er vor ihren Drehstuhl und fiel auf die Knie. » Mea maxima culpa! «
Mit galanter Geste ergriff er ihre Hand und küsste sie sanft. Seine stahlblauen Augen scheiterten an der Aufgabe, den geplanten Blick in die Tat umzusetzen, doch allein schon der Kuss erzielte eine verblüffende Wirkung.
Monika riss ihre dezent geschminkten Augen auf und starrte ihn an. »Hast du getrunken? Bist du verliebt? Hattest du einen Schlaganfall?«
Er erhob sich vom Boden und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Nichts dergleichen«, erwiderte er zerknirscht. »Ich bitte dich nur um Verzeihung!«
Sie zögerte einen Moment, als sei sie in einer Agonie gefangen. Dann griff sie mit fliegender Hand nach einem Designer-Kugelschreiber und beugte sich über ihren Kalender. »Den Tag muss ich mir rot anstreichen.« Sie zeichnete ein dickes Kreuz und schrieb zweimal unterstrichen daneben: Karl-Heinz bat mich heute auf Knien um Verzeihung!
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