Horst blieb einen Moment lang sinnend stehen, als müsste er angestrengt überlegen. Der Duft des Mädchens, das umgehend zu transpirieren begann, stieg ihm in die Nase. Scharf und etwas süßlich zugleich, sehr erregend; so wie er sich einen Ritt vorstellte in der endlos weiten Steppe der Tundra …
Das Mädchen hatte sich tief über sein Werkstück gebeugt. Es atmete heftig. Geht weiter, dachte es verzweifelt. Macht euch verdammt noch mal aus dem Staub!
»Ich nehme sie«, erklärte der Doktor bestimmt. »Sie kann gleich mitkommen.«
Die Augen des Meisters verengten sich zu Schlitzen. Für Sekunden stand darin die nackte Wut.
Horst ergriff die Hand des Mädchens und zog es sanft nach oben. Sein Blick fiel auf Kurz, und er fragte leichthin: »Irgendein Problem?«
»Natürlich nicht, Herr Doktor!« Der Adamsapfel des Meisters hüpfte nervös auf und nieder, und Horst sah vergnügt, wie sich seine Hand zur Faust presste.
»Na, dann ist es ja gut«, erklärte er kühl und führte die junge Arbeiterin durch die Halle. Er wandte sich zu ihr hin und fragte: »Wie war doch gleich dein Name?«
»Kamila«, flüsterte sie und schritt steifbeinig neben ihm her. Niemand traute sich, ihr nachzuschauen. Sie fühlte sich, als schritte sie vor aller Augen zu ihrem eigenen Grab.
Die große, aufwändig gearbeitete Bürotür fiel ins Schloss, als wäre es für immer. Ein flauschiger Teppich verschluckte jedes Geräusch ihrer Schritte. Kamila hechelte wie ein Tier in der Falle. Der Patron gab ihre Hand frei und wies auf einen Stuhl neben der Türe.
»Du kannst dich hier hinsetzen«, erklärte er freundlich.
Kamila ließ sich zitternd nieder und hielt ihren Oberkörper kerzengerade. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mann durch den Raum schritt und sich hinter einem gewaltigen Schreibtisch niederließ. Er beachtete sie nicht. Kamila starrte auf den Teppich und versuchte, ihren flatternden Atem zu beruhigen. Plötzlich hörte sie, wie eine Frau durch eine weitere Tür in den Raum trat. Sie warf einen verwunderten Blick zu ihr hin und schritt auf den Schreibtisch zu.
»Das Essen ist gerichtet, Herr Doktor.«
Der Patron blickte von einer Akte auf. »Was gibt es denn Schönes?«
»Hirschgulasch mit Semmelknödeln«, erwiderte die Frau, offensichtlich seine Sekretärin.
»Mit Preiselbeeren hoffe ich!«
»Natürlich, Doktorchen.« Sie schlug sich verlegen auf den Mund. Erneut warf sie einen raschen Blick auf Kamila.
Der Mann grinste spitzbübisch. »Ist schon in Ordnung, Ruth. Lass das Essen hierher bringen, ich will dabei ein wenig die Akten durchsehen. Und vergiss nicht eine Portion für das Mädel. Sie kann dort auf dem Stuhl essen.« Er wies mit einer Hand auf die Stelle, wo Kamila saß.
Fünf Minuten später kam ein Diener mit einem Wagen. Er deckte den Schreibtisch und füllte aus einer weiß glänzenden Terrine Gulasch auf den Teller. Kamila stieg der Geruch nach Wildfleisch und satter Soße in die Nase. Wie auf Kommando begann ihr Magen zu knurren. Zu ihrer maßlosen Verblüffung sah sie, dass der Kellner, nachdem er den Mann bedient hatte, tatsächlich auf sie zu schritt. Er stellte ein Tischchen vor sie hin und füllte in einen Blechteller Gulasch mit Soße. Dazu legte er einen fetten Knödel und häufte zum Schluss einen Teelöffel Marmelade dazu.
Sie schloss die Augen und spürte, dass ihr vor Hunger schlecht wurde. Kamila versuchte, an ihr Dorf zu denken und an ihre toten Eltern. Sie dachte an ihre Brüder, die vielleicht längst unter der Erde lagen und an den Weiher, in den sie oft nach der Arbeit gehüpft waren. Dann dachte sie an ihre Freundin Justyna und die anderen Frauen, die jetzt eine dünne Linsensuppe mit einem Stück Brot erhielten und solange daran kauten, dass es in ihrem Mund zu Brei wurde. Zum Schluss dachte sie an den Meister; wie sie ihm mit einer Gabel die Augen ausstach und ihn danach mit einem Feldstechergehäuse erschlug.
Als der Kellner endlich das Geschirr abräumte, hatte sie nicht einen Bissen angerührt.
Zum Feierabend entließ sie der Doktor freundlich, und sie wankte halb blind vor Hunger und Schwäche aus dem Raum.
14. September 2010
Klopfenden Herzens drehte Karl-Heinz den großen, leicht verrosteten Schlüssel um. Die schwere Eingangstür schleifte beim Öffnen über den Boden. Über dem Atelierraum lag ein diffuses, nahezu schattenloses Licht.
Sigi hatte ihm seine Bilder, den Inhalt der Materialschränke und das geordnete Chaos der Farbtuben und Paletten, Lösungsmittel, Leinwände und Schwämme einigermaßen erklärt. Er hatte versucht, ihm klarzumachen, in welcher künstlerischen Phase er sich befand und warum. Er hatte ihn angefleht, nichts zu verpfuschen und lieber gar nichts zu malen als Schrott. Und er hatte ihn unter Tränen bekniet, Joana so pfleglich zu behandeln wie eines seiner vielschichtigen Gemälde, die er in einer Mischung aus Rausch und Kalkül von der Leinwand stahl, als wären sie ein Stück Marmor oder Granit.
Karl-Heinz fühlte sich wie ein Dieb im eigenen Haus. Er stolperte ungeschickt über ein paar Holzlatten, hielt sich an der Staffelei fest und hätte sie beinahe umgerissen. Wo war Joana? Er hatte sich auf dem Weg ein paar einleitende Sätze zurechtgelegt, witzig und schlagfertig, wie sie seiner Ansicht nach zu Sigi passten. Plötzlich waren sie wie weggeblasen. Zaghaft öffnete er die Tür zu den Privaträumen. Vor ihm lag eine gemütliche kleine Wohnküche. Durch das hoch liegende Erkerfenster lugte die Sonne. Abgesehen von ein paar zwitschernden Vögeln vor dem Fenster war es vollkommen still.
»Joana?«
Seine Stimme klang so dumpf, als dringe sie aus einem Berg von Watte. Er drückte sich um den Küchentisch und lehnte sich steif an die Kante. Der Schweiß rann ihm über die Stirne, sammelte sich hinter seinen Ohren und im Nacken. Eine Welle von Panik schlug in ihm hoch und war nahe daran, ihn zu ersticken. Wo war Joana?
Vielleicht hatte sie die Schmierenkomödie irgendwie entdeckt und sich davongestohlen? Oder sie war erbost über sein nächtliches Ausbleiben und beschloss, es ihm heimzuzahlen … Sabine hätte so gehandelt. Aus welchem Holz aber war Joana gestrickt? Er verfluchte Sigi, dass er ihn nicht besser instruiert hatte.
Die ganze Situation war ja vollkommen lächerlich und absurd. Er würde jetzt sofort die Wohnung verlassen und von Sigi seinen Schlüssel fordern. Wie hatte er sich nur auf so ein idiotisches Spiel einlassen können?
Karl-Heinz wandte sich zur Tür und war von einem Moment zum anderen vollkommen blind. Zwei Hände legten sich wie Klammern über seine Augen, und ein unsichtbarer Körper bedrohte ihn von hinten. Karl-Heinz schrie auf, riss die Hände vom Gesicht, drehte sich auf dem Absatz um und griff an. Er starrte in das erschrockene Gesicht Joanas.
Das Lachen, das ihr auf den Lippen lag, gefror zu einer Grimasse. Sie räusperte sich, starrte ihn einen Moment lang an und wedelte mit der Hand.
»Ich bin kein Seeungeheuer, keine Klapperschlange und auch kein Drache!« Das Lächeln kehrte wieder zurück, und sie begann zu kichern. »Du musst ja eine furchtbare Nacht hinter dir haben, so wie du aussiehst.« Sie strich ihm über die stoppelige Wange. »Mein armer Sigi!«
Einen Augenblick lang drehte sich alles um ihn im Kreis. Er schloss die Augen, hielt sich reflexartig an etwas fest, merkte, dass es warm und weich war, und stieß das fremde Objekt vorsorglich weg. Wie durch einen Nebel erblickte er die hochgezogene Stirne seiner dunklen Frau.
»Joana«, krächzte er. »Ich dachte, dass … du bist hier?« Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Dreijährigen, der eine Trigonometrie-Aufgabe vor sich sieht.
»Mein armer Sigi«, wiederholte Joana und trat kopfschüttelnd an den Gasherd. »Ich glaube, ich mache dir erst mal einen Tee … Wo bist du überhaupt gewesen? Du hättest mich ja ruhig anrufen können!«
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