»Scheint Arbeit zu geben. Hier steht wortwörtlich: ›Notarzt wurde 11:16 Uhr über Notruf zu Hinterhaus gerufen. Er fand einen Toten vor, der nicht mehr wiederbelebt werden wollte. Männliche Leiche, südländisch, zirka vierzig Jahre. Tötungsdelikt durchaus möglich.‹ Welch primitiver Idiot hat denn so etwas geschrieben?« Rattner packte den Zettel zurück und Meisners Gesicht färbte sich rosa.
»Ich. Das war eine Telefonmitschrift. Entschuldige bitte!« Dann schwieg er beharrlich.
»Bist du jetzt eingeschnappt oder was?«, fragte Rattner drei Ampeln später.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Kriminalobermeister. »Du kannst einen aber auch manchmal schwächen.«
»Schwächen?« Rattner grinste. »Merkwürdig. Das sagt meine Frau seit ein paar Jahren auch ständig.«
»Volltrottel!«, rief Meisner und meinte damit einen Autofahrer, welcher schlagartig von der rechten in die linke Spur gewechselt hatte. Und zwei Spuren lagen noch dazwischen. Sie ließen den Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs hinter sich und fuhren durch eine kurvenreiche Straße, die in die Eisenbahnstraße münden würde. »Der Satz ›Du kannst einen aber auch schwächen‹ umschreibt lediglich mit netten Worten, dass die Senilität bei dir heftig zugenommen hat. Jetzt weißt du auch seit wann.« Nun grinste Meisner. Er versuchte, irgendwelche Hausnummern zu erkennen. »Das mit dem Häusernummerieren haben die hier noch nicht richtig verstanden.« Abrupt trat er auf die Bremse, lenkte scharf links ein und wendete fast auf der Stelle. Das geschah etwas sprunghaft, denn die Straßenbahntrasse hatte man hier leicht erhöht, um die freie Fahrt der Tram zu gewährleisten. Einige Sekunden später stand der Wagen zur einen Hälfte auf dem Fußweg und zur anderen Hälfte zwischen zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei. »Lass bloß nichts im Auto liegen, sonst kann ich gleich einen neuen Satz Scheiben bestellen.«
»Du und deine Vorurteile gegenüber fremdländischen Mitbürgern.« Rattner schüttelte den Kopf und schaute bedächtig an der Fassade hinauf. Unmittelbar über einem Laden im Erdgeschoss hing ein buntes Schild mit zwei Wörtern in kyrillischer Schrift: »Cрпски специалитети«. Weil Rattner aus früheren DDR-Zeiten noch halbwegs russisch beherrschte, buchstabierte er: »Srpski Specijaliteti. – Sag mal, was ist denn Srpski nun wieder für ein Land?«
Meisner beendete soeben die Kontrolle der Sicherheit seines Fahrzeuges. »Srpski? Sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas? Srpski! In diesem Laden gibt es Serbische Spezialitäten. Außerdem siehst du das auch auf dem Schild da: Pasulj, Sarma, Bela, Vesalica, Proja und Slivovic.«
Rattner öffnete die Haustür. »Immerhin: Slivovic kenne ich ganz gut. Brennt im Hals und wärmt von innen.«
»Mir war völlig klar, dass du nur den Pflaumenschnaps kennst.«
»Ich dachte immer, der wäre tschechisch.«
»Da hast du falsch gedacht. Die meisten Sachen gibt es überall im slawischen Raum.«
Im düsteren Hausflur wurden Rattner und Meisner von einer Streifenpolizistin begrüßt. »Morgen, die Herren. Der Tatort befindet sich vierzehn Schritte geradeaus auf dem Hinterhof.«
Beide knurrten gleichzeitig ein »Danke!« und verließen den Hausflur durch den Hintereingang.
Auf dem Hinterhof herrschte reges Treiben.
Einer der Herren in Blau begrüßte die Kriminalisten mit den Worten: »Den Weg hätten Sie sich praktisch sparen können.« Er zeigte auf einen Mann, welcher unmittelbar neben der Hauswand in einer Blutlache lag. »Das Opfer. Nebojša Suker, 49, deutsche Staatsbürgerschaft seit acht Jahren, der Vater des Ladeninhabers.« Und dann auf eine Frau, die am anderen Ende des Hofes auf einer umgedrehten Holzkiste saß und mit Handschellen an den Handgelenken versuchte, eine Zigarette zu rauchen. »Der Täter – oder besser die Täterin. Kristina Krajic, 28, hat dem Opfer mehrmals ein Filetiermesser in den Hals gerammt. Sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung.«
Zwei Leute in modernen Weltraumanzügen betraten den Hof. Die Spurensicherung. Beide grüßten Rattner, indem sie kurz winkten, und gingen sofort zu der Leiche, um die sich niemand wirklich kümmerte.
»Eine Frage noch: War diese Kristina hier, als Sie am Tatort eintrafen?«
Der Polizist verneinte. »Niemand hatte was gesehen, wir haben ringsherum fast alle Leute gefragt. Wer hier wohnt und arbeitet, ist wie die drei berühmten Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Als wir mit dem Absperren beschäftigt waren, kam Kristina Krajic auf den Hof getaumelt, setzte sich und erzählte irgendwas Unverständliches. Irgendwann sagte sie dann in gebrochenem Deutsch: ›Ja. Ich habe das getan. Sorry.‹ Das war alles. Seitdem schweigt sie.«
»Haftbefehl?«
»Ein vorläufiger wurde bereits mündlich erteilt. Der Staatsanwalt meinte …«
Mit einer Handbewegung unterbrach Rattner. »Ist mir egal, was der Staatsanwalt meinte. Lassen Sie alle Spuren sichern. Ich will die Namen und Adressen von allen Leuten, die hier wohnen, und auch die von den Angestellten, die im Laden arbeiten. Paul, du hörst dich um. Die vermeintliche Täterin nehme ich mit zum Verhör. Ich brauche jemanden, der mich ins Präsidium fährt.«
Der Polizist reagierte sofort: »Mike! Du bringst den Hauptkommissar und die Verdächtige zum Verhör. Okay?«
»Was ist mit dem Sohn des Opfers? Wie hat der sich verhalten?«, wollte Rattner wissen.
»Pan… Pantelija Suker? Der sitzt mit der gesamten Familie oben in seiner Wohnung und scheint sich zu beraten. Ehrlich gesagt, wie die absolute Trauer wirkte das nicht.«
»Paul!«, rief Rattner dem Kollegen hinterher. »Mit diesem Pantelija Suker will ich auch unbedingt sprechen! Sieh zu, dass du ihn ins Präsidium bringst.«
»Nur ihn oder die ganze Familie?«
»Paul!«
»Ich mach schon.« Meisner winkte ab.
Minuten später saß Rattner auf der Rückbank eines Einsatzfahrzeuges neben der jungen Frau. Sie sagte kein Wort und wirkte wie in einem tiefen Traumzustand. Kristina Krajic war ungeschminkt, einfach gekleidet mit Jeans und Bluse, ihr langes, dunkles Haar lag offen über den Schultern und sie trug keinerlei Schmuck.
Internationaler Luftraum
18. August
Stokan Vujasinović, ein knapp fünfzigjähriger Serbe, saß am Bullauge des Fliegers und schaute hinaus auf den leeren, langweiligen Flughafen, dessen Areal zwischen Leipzig und Halle in Mitteldeutschland lag. Hier starteten und landeten nicht nur unzählige DHL-Flieger. Auch die NATO, speziell die Amerikaner, nutzte diesen östlichen deutschen Flugplatz, um Versorgungsgüter, Waffen und frische, junge Kämpfer in ihre Besatzungsgebiete zu bringen.
Unbewusst verzog der stoppelbärtige Mann das Gesicht, an dessen Kinn eine trotzdem gut zu erkennende Narbe prangte.
»Hallo«, sagte eine junge Stimme.
Vujasinović schaute nach oben. Na prima! Ein deutscher Jugendlicher auf dem Weg in den Urlaub. »Hey, pozdrav!«, antwortete der Serbe in einer englisch-serbischen Wortkreation, die er sehr häufig benutzte.
»Ich habe 12 B. Ist das der Sitz in der Mitte?«, fragte der Junge, der einen Rucksack in den Händen hielt, den er zunächst auf dem Sitz neben dem Gang abstellte und schließlich öffnete.
»Ja, B ist in der Mitte. Was ist, willst du gern ans Fenster? Mir ist das egal.«
Der Junge lächelte. »Mir auch. Ich sehe eh nichts. Außerdem, bei Final Destination, also, ich meine beim ersten Teil, da sind zuerst alle die rausgeflogen, die direkt an den Fenstern saßen. Ich meine, als das Flugzeug gleich am Anfang vom Film explodiert ist.«
Stokan Vujasinović betrachtete das Gesicht des Jungen und erblickte nun auch den Blindenstock. »Was denn, du bist blind?«, fragte er leise und mit deutlich erkennbarem Akzent.
Fedor schnitt eine für ihn typische, fast einstudiert wirkende Grimasse. »Man kann eben nicht alles haben. Ich komm aber ganz gut damit zurecht.«
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