1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Ein Fahrzeuggeräusch! Fedor riss sich das Headset vom Kopf. »Mist!« Er suchte auf der Tastatur, überhastet, drückte erst die falsche Taste, dann gelang es ihm, die Onlineverbindung zu unterbrechen und die Ordner auf dem eigenen Rechner zu schließen. Er zerrte den Stick regelrecht aus dem USB-Anschluss und ging zur angelehnten Tür seines Zimmers.
»Hallo! Wir sind wieder da!« Die Stimme der Mutter bohrte sich in Fedors Ohren. Er spürte Natascha an sich vorbeilaufen, machte vier feste Schritte, öffnete den Koffer, steckte den USB-Stick in die kleine Tasche im Koffer, schloss ihn, verstellte beide Nummernschlösser, ging zwei Schritte nach rechts und einen schräg nach vorn und ließ sich – ohne die Sitzfläche vorher abzufühlen – auf das Sofa fallen. Das Bein irgendeiner Barbiepuppe von Natascha stach Fedor derb in den Oberschenkel. Im gleichen Moment fühlte er eine Hand auf seinem Kopf.
»Na Großer, alles okay bei dir?« – Papa!
Sorokin schenkte dem rötlich gefärbten Gesicht seines Sohnes keine Beachtung.
»Klar doch. Und bei euch?«
»Auch alles okay.«
Fedor ließ die angesammelte Luft aus der Lunge. Dann zog er die Puppe unter sich hervor und warf sie mit Wucht auf den flachen Tisch neben die Fernbedienung.
Anton schwang sich neben Fedor auf das Sofa und rief: »Kuck, Auto neu!«
Fedor streckte die rechte Hand aus, um das neue Spielzeugauto zu erfühlen. Doch Anton traute ihm nicht.
»Mein Auto«, sagte er stattdessen.
»Dann lass es eben sein.« Fedor erhob sich.
Pilot112194 … kroatischer Serbe … MANPADS … RBS 70 … Božidar – das waren genau die Begriffe, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatten. Er würde viel recherchieren müssen.
»Heute geht es früh ins Bett!«, legte Jekaterina laut und deutlich fest. »Gleich nach dem … ähm Uzhin …«
»Abendessen«, half Fedor nach. »Wann genau gibt es das?«
Die Mutter berührte seine Schulter. »Du hast schon Hunger?«
»Nein«, antwortete Fedor. »Aber wenn es noch ein bisschen dauert, dann packe ich inzwischen mein Handgepäck zusammen.«
»In dreißig Minuten. Khorosho? Denk an das Gewicht, Fedor.«
»So viel wiegt mein iPad nicht.«
»Nimmst du nur dein iPad mit?« Mehr konnte die Mutter nicht sagen, denn Fedor hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben und war bereits in seinem Zimmer verschwunden.
Im Grunde genommen war sein Reisegepäck wahrscheinlich ähnlich zusammengesetzt wie das eines durchschnittlichen sehenden Jugendlichen in seinem Alter. Das Smartphone wurde wegen des blindenfreundlichen Apple-Tablets mehr und mehr vernachlässigt, denn mit dem iPad konnte Fedor ebenso telefonieren wie enorm wichtige Dinge aus dem Netz laden und Mitteilungen versenden. Natürlich war seine elektronische Ausrüstung etwas komfortabler als die eines durchschnittlichen reisenden Jugendlichen.
Fedor benutzte eine hochwertige Bluetooth-Braillezeile. Dieses schmale, einer Tastatur gleichende Bauteil ersetzte ihm die Monitoroberfläche, denn über ein kompliziertes Verfahren wurde die Schrift vom Monitor auf der Braillezeile in Brailleschrift wiedergegeben, die er mit den Fingern lesen konnte. Die Informationsaufnahme über das Lesen war aufwendiger als die über das Hören, wenn ihm die Computerstimme etwas vorlas. Jedoch konnte Fedor mit der Braillezeile selbst geschriebene Mitteilungen prüfen und natürlich die Schreibweise ihm wenig bekannter Wörter nachvollziehen. Die Stimme des Screenreader-Programms verlieh seinem iPad sogar einen Namen, denn Fedor nannte es Alex. Das kam daher, dass Alex die Stimme von VoiceOver war. Nach seinem Empfinden war es eine der besten synthetischen Stimmen. Nicht vollendet gut, aber immerhin befriedigend, mitunter fast etwas menschlich. VoiceOver war ein Programm, das auf dem iPad lief und dafür sorgte, dass dieser künstliche Alex alles erklärte, was zu sehen oder zu lesen war. Es sorgte auch dafür, dass Fedor sein iPad über Handgesten steuern konnte. Aktivierte Fedor durch einen Dreifachklick auf die Hometaste die VoiceOver-Steuerung und berührte das Display, so erklärte ihm Alex, was sich auf dem Display befand. Jede beliebige Taste konnte er dann mit einer Doppelberührung aktivieren. Mit bestimmten Fingerbewegungen, den sogenannten »Gesten«, konnte der blinde Junge problemlos das iPad bedienen. Noch genialer war für ihn die »Rotor-Funktion«. Bewegte er zwei Finger auf dem Display, als wollte er eine Cola-Flasche öffnen, dann aktivierte er die Rotor-Funktion, mit der er rasch durch Dokumente wandern konnte. Sehr wichtig war diese Funktion für Fedor, wenn er im Internet unterwegs war. Er arbeitete sich schneller durch die verschiedensten Seiten als viele seiner nichtblinden Freunde. Durch die Berührungsoberflächen der neuen mobilen Gerätegenerationen musste Fedor sich völlig umgewöhnen und eine zweite Art der Bedienung lernen, denn eine Tastatur gab es am iPad nicht. In der Schule hatte er das Zehnfingerschreiben an der Blindentastatur annähernd perfekt gelernt, doch das half ihm bei einem Touchscreen leider nicht weiter. Inzwischen kam Fedor mit den Gesten jedoch so gut zurecht, dass Stefan stets staunte, wenn Fedor mit dem iPad arbeitete oder im Netz surfte.
Nachdem Fedor den Ladezustand aller elektronischen Geräte pedantisch geprüft hatte und endlich davon überzeugt war, dass er eine Speicherkarte mit genügend MP3-Musik und Hörbüchern gefüllt hatte, packte er alles ordentlich und vorsichtig in seinen Rucksack und stellte diesen neben die Zimmertür. Dokumente und Geld trug er gewöhnlich in einem Brustbeutel. Anschließend prüfte Fedor seinen Langstock und stellte ihn neben den Rucksack.
In diesem Moment rief es: »Uzhin!« Die Mutter verbesserte sich sofort: »Ich meine Abendessen!«
*
Ein paar Stunden zuvor, etwa zwanzig Kilometer von Fedors Zuhause entfernt: Hans Rattner, Hauptkommissar der Mordkommission Leipzig, stieg zu seinem immerhin um ein Jahr jüngeren Untergebenen Kriminalobermeister Paul Meisner in den Einsatzwagen und schlug derb die Beifahrertür zu.
»Der Tag fing so gut an«, stellte Meisner fest.
Rattner zuckte mit den Schultern. »Ausgerechnet in der Eisenbahnstraße«, raunte er. »Was ist denn da wieder los?«
Meisner stöhnte. »Schnall dich lieber an, nicht dass uns noch die Polizei erwischt.«
Es dauerte eine geraume Weile, bis Rattner mit dem Gurt zurechtkam. Wahrscheinlich dachten die beiden Beamten in diesem Augenblick des Beginns einer neuen Ermittlung das Gleiche. Vor einigen Tagen glaubten zwei Kollegen ihren Augen nicht zu trauen, als sie nach einer Routinekontrolle in Zivil die Leipziger Multi-Kulti-Meile Eisenbahnstraße abliefen und dabei notgedrungen einen Iraner beobachteten, der es sich gerade mit einem Teppich auf dem Gehsteig bequem machte. Als sie genauer hinschauten, entdeckten die beiden Beamten ein buntes Sortiment an Drogen und Zubehör. So etwas hatten selbst die Drogenfahnder noch nicht gesehen. Als sie den Iraner zur Rede stellen wollten, zückte er sofort ein Teppichmesser. Zum Glück verstanden die Beamten ihr Handwerk besser als der Drogendealer und konnten ihn daher blitzschnell entwaffnen. Später stellte sich heraus, dass die Tütchen, die der Mann in seinem kleinen Freiluft-Lädchen feilbot, mengengerechte Portionen Heroin und Cannabis enthielten. Der Mann wurde festgenommen und wegen illegalen Drogenhandels angeklagt. So ernst die Geschichte auch war, in den Polizeidienststellen sorgte sie für sehr viel Gelächter.
Rattner brachte es damals auf den Punkt: »Unsere Gesellschaft verdummt zusehends. Warum sollte die Verdummung ausgerechnet einen Bogen um die Kriminellen machen?«
Der Hauptkommissar öffnete die Mappe auf seinem Schoß, entnahm ihr das einzige Blatt Papier und versuchte, die Schrift darauf zu lesen. »Wackle nicht so rum!«
Der arme Paul Meisner umfuhr bereits nahezu jedes der unzähligen Schlaglöcher. »Das bin nicht ich, das ist die Straße«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Und, was sagst du dazu?«
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