1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Erst jetzt bemerkte Harry die nasse rote Stelle an seinem rechten Arm. Nein, er hatte sich den Arm nicht beim Handgranatenwurf gezerrt. Es war eine Schussverletzung. Der Kamerad mit der Sanitätshilfsausbildung schnitt sein Hemd auf und untersuchte den Arm. Zum Glück war es nur ein Streifschuss, der schnell verbunden war.
Mit zwei Stunden Verspätung erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt. Der Rückmarsch mit der Trage und dem schwer verletzten Zandor hatte ebenso Zeit gekostet wie das kurze, aber heftige und erbarmungslose Gefecht, das Sichern des Kampfortes und die Behandlung der Schussverletzungen. Bei den anderen beiden Gruppen war der Tag ereignislos verlaufen.
Auf der Rückfahrt in die Kaserne wurde der Überfall immer wieder durchgesprochen. Meistens war es allerdings kein Sprechen. Je nach Temperament schrien sich die Kameraden ihre Empfindungen zu, der eine oder andere versuchte sich dabei als Held aufzubauen, oder sie sprachen ganz leise, ganz in sich gekehrt, von dem Glück, das sie alle bis auf Zandor hatten. Immer wieder gingen sie den feigen, aber raffinierten Hinterhalt der Rebellen und die perfekte Reaktion und den Sturmangriff der Gruppe durch.
In der Krankenstation wurde Zandor notversorgt. Der Arzt resignierte. Er konnte für den schwer verletzten Kameraden in seiner kleinen Notfallstation nicht viel tun. Zandor wurde mit einem Sanitätskraftwagen ins Krankenhaus transportiert. Harrys Streifschuss war die letzte der drei Schussverletzungen, die der Arzt anschließend versorgte. „Sie haben sehr viel Glück gehabt. In ein paar Wochen ist das alles verheilt. Ich schreibe Sie für zwei Wochen krank. Da können Sie sich ein wenig erholen“, sagte der Doktor schmunzelnd. Er war ein netter älterer Herr, der irgendwann den Absprung aus der Legion verpasst hatte.
Später in ihrer Unterkunft sprachen Harry und Ian die vergangenen Tage noch einmal durch. Ian hatte in seiner Gruppe zwar nichts Aufregendes erlebt, war aber genauso zwiespältig in seinen Empfindungen wie Harry über die Vorgehensweise der Legionäre bei den Durchsuchungen der Dörfer und armseligen Transporte mit den kargen Ernteerträge der Bauern. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, darin waren sich beide einig.
Abends saß Harry noch sehr spät alleine auf der harten Bank vor dem Logis. Er konnte nicht schlafen. Ein wenig fassungslos betrachtete er seine Hände. Sie zitterten! Völlig verselbstständigt spulte sich der Überfall immer wieder in seinem Kopf ab. Er konnte es nicht abstellen, er konnte nichts dagegen tun. War er es gewesen, war es seine Handgranate gewesen, die drei Menschen das Leben gekostet hatte? Das Bild des völlig zerfetzten Körpers des einen Algeriers ließ sich ebenso wenig wegschieben wie die Fleischfetzen und Stoffreste, die kurz vorher noch einen Menschen ausgemacht und ihn bekleidet hatten und dann in dem Gebüsch klebten. Krampfhaft versuchte er, immer wieder rationale Gedanken in den Vordergrund zu holen. Die haben uns schließlich überfallen, die haben einen Hinterhalt aufgebaut, die wollten uns schließlich alle umbringen. Er erkannte, dass das alles richtig war, aber das Grauen blieb.
Harry konnte erst in den frühen Morgenstunden etwas Schlaf finden. Aber Harry war jung. Der nächste Tag weckte ihn mit strahlendem Sonnenschein. Die Kameraden hatten schon Dienst. Doch er hatte frei, er war krankgeschrieben. Er suchte die beiden anderen Kameraden mit den Schussverletzungen auf. Er versuchte, sie zu einem Spaziergang in die Stadt zu animieren. Aber sie lehnten ab, sie hatten Schmerzen. Die hatte Harry auch, aber sein Streifschuss war sicher nicht so schmerzhaft wie die beiden Durchschüsse. Alleine konnte er nicht gehen, das war verboten. Sie spielten ein wenig Karten, dann nahm Harry sich ein Buch und las. Er fand das Leben wieder ganz erträglich.
Zwei Tage später wurde Harry zum Kommandanten befohlen. Habe ich etwa etwas ausgefressen?, fragte er sich insgeheim, als er sich meldete. Aber nein, er erhielt eine feierliche Belobigung für sein „vorbildliches Verhalten im Gefecht“. Der Gruppenführer hatte in seinem Bericht Harrys Verhalten als tapfer, entschlossen und professionell geschildert. Harrys Verhalten sei es maßgeblich zuzuschreiben, dass der heimtückische Überfall aus dem Hinterhalt bis auf die schwere Verletzung von Zandor so glimpflich ausgegangen sei. „Sie haben entschlossenen und qualifiziert gehandelt. Wenn Sie wieder dienstfähig sind, werden Sie als Gruppenführer eingesetzt. Da diese Positionen für unsere beiden Gruppen besetzt sind, werden Sie nach Dienstfähigkeit in das Fort Sidi Boukekeur versetzt und dort eine Gruppe führen.“
Darf ich stolz darauf sein, dass ich Menschen getötet habe?, fragte sich Harry, als er langsam und grübelnd zu seinem Logis zurückging. Aber sofort meldete sich eine beruhigende und wohlmeinende innere Stimme, die seine Selbstzweifel zerstreute: Erstens ist es gar nicht sicher, dass du, dass deine Handgranate getötet hat, und zweitens war es Notwehr. Wenn du und deine Kumpel die drei Rebellen nicht ausgeschaltet hättet, dann hätten sie euch umgebracht. Langsam überwogen dann doch die Freude über die Belobigung und der Stolz über die Beförderung in seiner Funktion.
Doch auch der Stolz über diese Beförderung war etwas ambivalent, war sie doch mit der Versetzung zum Fort Sidi Boukekeur verbunden. Dieses Fort war ein Außenposten im Niemandsland, wie ihm der Kommandant auf Nachfrage erklärt hatte. Allerdings, so ging es Harry durch den Kopf, hatte er die Kaserne hier in Mascara in seiner Freizeit auch noch nicht verlassen. Er hatte noch nichts von der Stadt gesehen. Umso mehr freute er sich, als er sich beim Abendessen mit einigen altgedienten Legionären zu einem abendlichen Stadtbummel verabredete. „Wir machen richtig einen drauf, mit allen Schikanen“, strahlte Andree, ein Corporales, der schon über ein Jahrzehnt bei der Legion war.
Nach kurzer Diskussion beschlossen die Jungs, in Zivil zu gehen. Das war bis vor Kurzem für die Legionäre noch verboten. Die Anordnung lautete, Legionäre haben sich in jedem Land, in jeder Umgebung und gerade auch in ihrer Freizeit in tadelloser Uniform zu präsentieren, um ihre Verbundenheit mit der Legion und ihren Stolz, ihr anzugehören, zu zeigen. In Algerien wurde nach mehreren Jahren Krieg Zivil jedoch toleriert, um eine unnötige Konfrontation mit der Zivilbevölkerung zu vermeiden, die die Uniformen der Unterdrücker als Provokation empfinden könnte.
Harry genoss den Rummel. Die einladenden Cafés und Kneipen in Kasernennähe lockten. Andree versuchte die Kameraden zu überreden, weiterzugehen. „Ich habe einen Geheimtipp. Das El-Jazair Royal. Dort gibt es tolle Musik und vor allem die schönsten Frauen Nordafrikas. Aber Superfrauen und keine Nutten, so wie hier.“
Zwei Kameraden wollten nicht weiter. Sie strebten zu einer Kneipe mit fantastischen orientalischen Ornamenten in allen Farben bemalt und einer roten Laterne vor der Tür. Es war offensichtlich ihr Stammlokal, sie kannten sich dort aus, sie kannten die Frauen und es war ihnen recht so. Zu viert zogen die anderen weiter.
Harry staunte, als sie durch ein kleines Villenviertel gingen. Protzige Villen im Kolonialstil, alle umgeben von einer halbhohen Mauer. Die Mauern waren etwa alle zwei Meter nach Geschmack der Besitzer unterschiedlich geschmückt mit kleinen Türmchen, stilisierten Ornamenten, Sternzeichen oder auch Engelsfiguren. Kunstvolle schmiedeeiserne Tore verwehrten Fremden den Einlass zu den meist mit protzigen Säulen versehenen Haupteingängen. Aus den Gärten wehte ein zarter, aphrodisierender Duft von den üppigen Blüten der Blumenpracht. Orangen-, Zitronen-, Feigenbäume und wunderschöne Dattelpalmen wechselten sich mit der blühenden Pracht ab. Fast übergangslos kamen sie dann durch einige Gässchen eines Berberviertels, so schmal, dass sie gerade zu zweit nebeneinander gehen konnten. Die Gassen waren zum Teil völlig ungepflastert oder mit grobem Kopfsteinpflaster versehene Berg- und Talbahnen. Zu beiden Seiten standen aneinandergefügt die Häuser, meist schäbig, mit tiefen Mauerrissen zwischen den groben Felssteinen, abgeblätterter Farbe und kleinen Türen und Fenstern, die alle verriegelt und verrammelt waren. Abrupt traten sie aus diesem etwas deprimierenden Viertel auf eine mit Palmen geschmückte Hauptstraße, eine prächtige breite Allee. Der Verkehr darauf beschränkte sich auf wenige Autos und einige elegante Pferdekutschen. Dann standen sie vor dem vornehm wirkenden, mit kunstvollen orientalischen Ornamenten umrankten Haupteingang des El-Jazair Royal. Vorbei an einem riesigen in operettenhafter Generaluniform gekleideten Portier betraten sie einen mittelgroßen Saal. Mehrere geradezu königlich vornehm wirkende Kronleuchter verbreiteten eine strahlende und doch angenehme Helligkeit. Im Saal war es leicht verräuchert, aber alles war überlagert von einem facettenreichen Duft vieler und offensichtlich edler Parfums. Gesprächsfetzen und Lachen wehten von den Tischen und den Paaren auf der Tanzfläche herüber. Der angenehme Geräuschpegel wurde von einer kleine Kapelle dominiert, die auf einem Podium in der Ecke des Saales sehr gekonnt Tanzmusik spielte. Sie fanden einen kleinen Tisch und bestellten. Andree trank Supernova, die beiden anderen Jungs, wohl animiert von der vornehmen Atmosphäre, bestellten eine Flasche Champagner. Harry blieb bei seinem Mineralwasser.
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