Ganz langsam kam er wieder in der Wirklichkeit an. Was war das mit der Warnung von Yamalia vor dem Fort Sidi Boukekeur? Das konnte er nicht ignorieren. Nicht für sich selber, aber auch nicht für seine Kameraden. Sehr zäh nahmen seine Überlegungen Struktur an. Er musste den Kommandeur informieren. Aber er konnte natürlich, wieder mal, nicht die ganze Wahrheit sagen.
„Ich habe, als ich mit einem Ruderboot im Schilf eine Pause gemacht habe, zufällig ein Gespräch belauscht. Leider nicht vollständig, nur teilweise. Aber eines war klar, es ging um einen Überfall auf Fort Sidi Boukekeur. Und zwar jetzt, in den nächsten Tagen.“
Der Kommandeur hörte sich Harrys Bericht resigniert an. „Alles zerbricht. Sie treiben uns raus. Natürlich werde ich Ihre Meldung weitergeben. Aber ich glaube, dass es nichts bewirken wird. Es brennt überall.“
Langsam ging Harry zurück zu seinem Logis. Seine Gedanken kreisten: Ich hab’s jedenfalls versucht. Aber was ist mit mir? In vier Tagen läuft meine Krankschreibung ab, und dann muss ich selbst zu diesem verdammten Fort Sidi. Das darf nicht sein. Dafür hat Yamalia mich nicht gewarnt. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Aber das schob Harry erst einmal auf. Auf später. Er war eigentlich nur traurig und teilnahmslos. So vergammelte er den Tag und den nächsten und den übernächsten. Dann wurde er zum Kommandeur befohlen.
„Praktikant Linnemann, ich habe eine schlimme Nachricht. Ihre Warnung war berechtigt. Das Fort Sidi Boukekeur wurde angegriffen und von den Rebellen eingenommen. Es ist nichts bekannt über die Besatzung, die Zahl der Opfer oder der Überlebenden. Das Fort wurde offiziell aufgegeben. Ja, es ist schlimm, alles zerbricht. Ich fürchte, unsere Tage in Algerien sind gezählt.“
Harry war völlig leer. Es war passiert. Wer war Yamalia? Was hatte sie für einen Einfluss, für eine Kompetenz?
In den nächsten Wochen sickerte langsam durch, dass Verträge unterzeichnet worden waren. Algerien würde selbständig werden. Die französischen Truppen würden das Land verlassen und die Legion machte den Anfang. Es kam immer noch zu Kämpfen, durch Ultras, durch fanatische Rebelleneinheiten, also durch die Unverbesserlichen, die Extremen beider Seiten. Deshalb war Harry erleichtert, als er mit seinen Kameraden auf einem Truppentransporter eingeschifft wurde. Die Reise war kurz. Schon am nächsten Vormittag bezogen sie ihre neuen Quartiere in der Nähe von Calvi auf Korsika.
Sechs Wochen vor dem Ende seiner neunmonatigen Praktikantenzeit wurde Harry zu seinem Kommandeur befohlen. Er warb dafür und empfahl Harry, sich regulär für fünf Jahre bei der Legion zu verpflichten. Trotz der Lockung mit einer sofortigen Beförderung und der Zusage zur Aufnahme in die Offizierslaufbahn lehnte Harry dankend ab. Natürlich, denn er hatte andere Ziele. Nach mehreren Versuchen hatte er es geschafft, Señor Jerez in Gandia telefonisch zu erreichen.
„Ja, ich habe einen Studienplatz für das Jurastudium an der Universität in Valencia sichergestellt. Allerdings kein Stipendium. Aber Geld hast du ja genug verdient mit deinen Grundstücksgeschäften, und das liegt hier auf deinen Namen auf der Bank bereit und es ist auch schon einiges an Zinsen dazugekommen. Das erste Semester beginnt in fünf Monaten, am 1. Oktober. Spätestens einen Monat vorher musst du die Selectividad, das Prüfungsverfahren zur Eignung zum Hochschulstudium, durchlaufen. Aber das schaffst du schon.“
Harry war begeistert. Er diente seine restlichen Wochen Legion ohne innere Anteilnahme, irgendwie automatisch ab, obgleich die Zeit auf Korsika Drill pur war. Täglich mussten die jungen Männer Geiselbefreiungen üben. Unterbrochen wurde der Drill nur für einen Teil der Legionäre, der eine Zusatzausbildung zu Präzisionsschützen erhielt. Harry gehörte dazu. Er durchlebte das alles wie in einem großen, lockeren Gewand. Innerlich gehörte er nicht mehr dazu. Schon bald gehörte er zu der kleinen Gruppe, die mit der Fähre nach Marseille übersetzte, um dann die letzten Diensttage in Aubagne zu verbringen.
Mit einem ansehnlichen Gehaltsscheck und auch reichlich Bargeld, er hatte ja während seiner Dienstzeit kaum Geld ausgegeben, trat er schließlich die lange Heimfahrt mit der Bahn nach Bremen an. Bald setzte die Abenddämmerung ein. Träumend sah Harry aus dem Abteilfenster. Nicht immer nahm er wirklich wahr, was er sah. Immer wieder ließ er einzelne Wochen oder auch Tage dieses Dreivierteljahres Fremdenlegion Revue passieren. Ja, er hatte viel erlebt. Die meiste Zeit, die Zeit des Drills, der Strapazen, der Schikanen, konnte er bald ablegen. Einzelne Begebenheiten durchlebte er erneut und manche immer wieder. Die rücksichtslosen Durchsuchungen der Dörfer, die angstvollen, aber auch hasserfüllten Blicke der bettelarmen Bewohner. Den Rebellenüberfall aus dem Hinterhalt auf seine Gruppe, der zu dem langsamen und qualvollen Tod eines Kameraden führte. Den Angriff der Kameraden auf die Freiheitskämpfer im Hinterhalt und deren entsetzliches Ende mit den Fleischfetzen in den Büschen und nicht zuletzt seinen eigenen Anteil daran. Die Schussverletzung, die er sich dabei zugezogen hatte, führte dann auf Umwegen zu den Tagen, die er sicher nie in seinem Leben vergessen würde. Seine Zeit mit Yamalia. Die Tage und Nächte der totalen Liebe und Leidenschaft. So total, dass für nichts anderes Raum oder Zeit blieb. Außer, dass er seine Liebe, sein Wunder, belügen musste, vom ersten Moment an und dann durchgehend. Aber er hatte ja keine andere Möglichkeit gehabt, er war gezwungen gewesen, sie zu belügen. So sah er das auch während seiner Träumereien auf der Rückreise. Und dann der schreckliche Moment, als Yamalia begriff, dass Harry sie belogen und betrogen hatte. Der jähe Umschwung ihrer Gefühle von Liebe und Leidenschaft in Entsetzen, in sprachlose Enttäuschung, in unbändige Wut und in Hass. Wut und Hass so umfassend, dass sie Harry töten, dass sie Harry erschießen wollte. Aber es war noch ein Rest der Liebe da, und sie konnte nicht schießen. Dieses restliche Polster der Liebe reichte sogar aus, um Harry gezielt vor Fort Sidi Boukekeur zu warnen, um sein Leben zu retten, obgleich sie damit gleichzeitig Verrat an ihrer großen Mission des Freiheitskampfes verübte. Harry sehnte sich danach, Yamalia irgendwann wiederzusehen, sie wieder in den Armen zu halten, ohne dass Krieg, Hass und Gewalt zum Lügen zwangen.
Nach der letzten Grenzkontrolle, als die deutsche Grenze passiert war, schlief Harry ein. Er träumte von einem Gefühl der Verlassenheit und Melancholie, die ihn im Schlaf ergriff. Irgendwann erwachte er mit dem Gefühl der Verlorenheit, der Gewissheit, etwas Schönes für immer verloren zu haben. Er schlief wieder ein und als er das nächste Mal aufwachte, fühlte er sich erfrischt. Langsam kam er zu sich und spürte, wie sich Optimismus in ihm ausbreitete. Optimismus und Vorfreude auf das Leben, das vor ihm lag. Er reckte sich und streckte seine Arme. Ein neuer Tag, ein neues Leben. Er atmete tief ein und aus.
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