Susanna Schwager
Frauen über achtzig erzählen
Mit einem Glossar
Fotografien von Marcel Studer
Für meine Pimpinella, in einem Sommer voller Heidis, gepfefferter Mönche und ungeküsster Ziegenlippen
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe
© 2007 Wörterseh, Lachen
Wörterseh-Bestseller als Klappenbroschur
2. Auflage 2021
Die Originalausgabe erschien 2007 als Hardcover mit Schutzumschlag und wurde für diese Ausgabe aktualisiert
Lektorat: Andrea Leuthold
Korrektorat: Claudia Bislin, Jürg Fischer
Fotografie: Marcel Studer
Lithografie: Tamedia Production Services
Gestaltung und Satz: Sonja Schenk
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Druck: Beltz Grafische Betriebe
ISBN 978-3-03763-085-3 (Klappenbroschur)
ISBN 978-3-9523213-4-8 (Originalausgabe)
ISBN 978-3-03763-526-1 (E-Book)
www.woerterseh.ch
Und ich frage mich,
ob man am Ende lebe,
um sich erinnern zu können.
Gerhard Meier
Hanny Fries
Künstlerin, Illustratorin
Fränzi Utinger
Sekretärin, Schmugglerin, Unternehmerin
Stephanie Glaser
Filmschauspielerin, Kabarettistin
Urselina Gemperle
Zigeunerin, Hausfrau, Mutter
Maria Loretz
Bergbäuerin, Hotelangestellte, Hausfrau, Mutter
Lilly Vogel
Verkäuferin, Flüchtlingsbetreuerin, Geschäftsfrau, Hausfrau, Mutter, Entwicklungshelferin
Anne-Marie Blanc
Film- und Theaterschauspielerin, Mutter
Monica Suter
Kinderschwester
Trudi Kilian
Coiffeuse, Hausfrau, Mutter, Volksmusikerin
Emilie Lieberherr
Lehrerin, Frauenrechtlerin, Politikerin
Lys Assia
Schlagersängerin, Unternehmerin
Marie Zürcher
Hebamme
Nachbemerkung
Glossar
27. 11. 1918–7. 12. 2009
Hoch über der Stadt ein Haus, das so schnell nichts erschüttert. An der Tür ein Zettel mit dem handgeschriebenen Namen, man muss wissen, wo man Hanny sucht. Wohlgeordnete Überfülle präsentiert sich im malerischen Licht des Ateliers, das ihr Urgrossvater baute. In seinen Tiefen verbergen sich Schätze .
Man muss mit Coraggio anfangen, mit Mut. Einfach anfangen, das ist das Wichtigste. Nicht zuerst wissen wollen, wo es hinführt, sondern anfangen und dann einfach weitermachen. Wie im Leben ist das, da weiss man auch nie, was das wird. Eine Frage des Mischens. Man muss gar nicht weit laufen, alles ist gut genug, um damit anzufangen, jede hundskommune Ecke und jedes Papier. Ich habe gern Papier, das nicht extra für Kunst gemacht ist, sondern für Würste zum Beispiel. Metzgerpapier ist etwas Wunderbares, am liebsten ist mir das italienische. Ich liebe Märkte, auf den Märkten schaue ich und sammle Einwickelpapier. »Könnte ich noch von dem Papier haben, das dort hinter Ihnen hängt?« – »Ma perqué?« – »Sono pittore«, dann bekomme ich ganze Stapel Wurstpergament mit diesen Löchern, wo es aufgehängt war. Die Italiener mögen Maler. Dieses Papier ist grausam, man kann es eigentlich nicht beschreiben, nur mit dicken Federn oder Stiften. Leider ist es jetzt verboten. Zu wenig hygienisch; das Blut und das Fett lief den Hausfrauen doch ständig in die Einkaufstaschen.
Es ist auch gut, mit Spazieren anzufangen. Flanieren ist gut, schauen, riechen, hören, schauen. Sich unter die Leute mischen, ohne viel zu wollen. Ich habe nie Auto fahren gelernt, ich war immer zu Fuss unterwegs oder mit dem Tram. Ich liebe Bahnhöfe, Wartsäle. Flanieren ist das beste Fitnesstraining, da vergehen die Bobos von alleine. Aber nicht Powerwalken mit diesen Stöcken, die man von weitem klappern hört. Herumspazieren und sich die Welt anschauen, ohne Lärm, ganz gewöhnlich. Bei mir ist natürlich ein Notizblock dabei. Eine Zeichnung ist viel besser als eine Fotografie. Wenn ich eine Skizze mache, bleibt es mir, das ist dann gespeichert in meinem Computer hier oben. Wenn man an etwas gelitten hat, prägt es sich ein.
Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Drum bin ich jetzt ein wenig angestrengt, weil ich ständig gefragt werde nach Sachen, die die Jungen nicht mehr wissen. Wie ein Archiv komme ich mir vor. Die Jungen wissen viel Neues, aber sehr vieles wissen sie eben nicht. Ich habe ein paar Jährchen gelebt und Leute kennen gelernt. Da kommt etwas zusammen, wahnsinnig. Ich beobachte, wie die Löcher in der Erinnerung der Gesellschaft immer grösser werden. Komischerweise schien es lange Zeit niemanden zu stören, dass hinten so viel fehlt. Jetzt kommt das langsam wieder.
Ein gutes Gedächtnis kommt nicht von nichts. Das kommt bei mir vom Zeichnen. Auch Schreiben geht, aber das Malen und Zeichnen mit der Hand speichert sich am besten ab hier oben. Über das Auge und über das Gefühl gehen die Bilder hinein und bleiben. Ich muss immer einen Block neben dem Bett haben, damit ich zeichnen oder aufschreiben kann, was mir durch den Kopf geht. In der Dunkelheit kommt viel, was sich am Tag nicht hervortraut.
Ein Computer käme mir nicht ins Haus, das sind Prothesen. Ich hasse das alles, diese sklavische Abhängigkeit von Hilfsapparaten. Nur schon dieses Wort, Internet. Mir ist fast alles suspekt, was nett ist. Und ein Handy brauche ich auch nicht, bei der Hanny ist alles handy. Tutti quanti handy bei mir, alles von Hand. Die Sturheit habe ich vom Righini. Bei ihm musste sich sogar das Telefon unter einem Tuch verstecken.
Ich komme aus einer richtigen Künstlerfamilie. Mein Grossvater war der Kunstpapst Sigismund Righini, ein toller Mann. Mein Vater war ein Maler ganz anderer Art und führte eine begehrte Privatmalschule. Meine Mama sass über Schreibheften. Die Kunst, aber auch das Gesellige, das Sich-Mischen und Sich-Einmischen, lag bei uns in der Familie. Ich war ein Einzelkind, aber das Haus war immer voller Leute. Der Vater und vor allem der Grossvater engagierten sich in Gremien und Kommissionen für die Kunst und die Künstler. An der Schanzeneggstrasse 1 wohnten wir, da gab es ein grosses Atelier mit Blick auf den Botanischen Garten und den Fluss. Für Willys Freunde gab es jederzeit Mandarinli oder einen Kaffee vom Kätterli, meistens auch eine warme Mahlzeit. Ich nannte meine Eltern immer beim Vornamen.
Das Kätterli war die Tochter vom Righini und machte kleine Feuilletons. Lustige, farbige Texte. Es kam einmal ein Büchlein heraus beim Orell Füssli. Das Kätterli wäre sehr gut gewesen, aber sie schrieb absolut unleserliche Manuskripte. Der Willy zwang sie dann, es wenigstens so zu schreiben, dass man es in ein Büro geben konnte zum Abtippen. Von uns konnte ja niemand Maschine schreiben. »Seltsamer Abend« heisst das Büchlein. Impressionen waren das, kleine Mansfield-artige Stückchen, ein Schuhladen in Venedig, ein Gewitter im Garten, der Vater im Atelier. Sie hat gut geschrieben, sehr gut. Und sie war auch eine wunderbare Imitatorin. Wenn das Kätterli mit dem Willy ins Cabaret Cornichon ging, lag ich wach im Bett und wartete, bis sie kam und mir vormachte, was sie gesehen hatten. Daheim spross eine freie Bildung, ohne schulischen Druck. Alles ist Schule, wenn man sich darauf einlässt. Die Kunst gehörte bei uns ganz selbstverständlich zum Alltag, das eine bedingte das andere. Ich sass mittendrin, wenn meine Eltern sich über Ausstellungen, Sitzungen der Zürcher Künstlerschaft, über Lesezirkel, den Lyceum-Club, Theater und Konzerte unterhielten. In der Wohnung lagen die Zeitschriften »Der Querschnitt«, »Die Dame« und »Der Simplicissimus« herum. Von diesem Boden zehre ich heute noch.
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