Wenn sie am Samstag vom Hermes-Verein der Handelsreisenden bei uns Sitzung hatten, bastelte der Vater stundenlang Aufschnittplatten, hochdekorierte. Aus Eiern und Tomaten schnitzte er Schwäne und Blumen, aus den Cornichons Igelchen. Er entwarf auch das Verbandswappen. Sonst malte er vor allem Blumen. Er wollte, dass ich das auch lernte, einfach so für mich. Vielleicht dachte er, damit ich einmal ein Hobby habe. Er spielte auch Geige mit mir, und ich durfte ihn auf dem Klavier begleiten. Ab und zu gab ich sogar ein kleines Vortragskonzert im Gemeindesaal in Örlikon, mit Publikum. Als der Vater nicht mehr da war, habe ich mit diesen Sachen aufgehört.
Wenn die Mutter zum Arzt musste in die Stadt, gab sie mich bei den Grosseltern im Niederdorf oder am Gemüsemarkt beim Bahnhofquai ab. Manchmal durfte ich mit dem Grossvater auf die Felder im Seefeld, dort hatten die Grosseltern Land gekauft und bauten Gemüse an. Ich liebte den Grossvater, und ich liebte den Markt mit den vielen Italienern. Es gefiel mir auch in den verrauchten Beizen, in die er mich mitnahm. Der Mutter gefiel das nicht. Sie fand, diese Touren seien kein guter Zeitvertreib für ein Mädchen. Eigentlich auch nicht für den Grossvater.
Sie hatte recht, denn eines Tages verschwand er nämlich. Er war an einem schönen Abend nach der Arbeit mit ein paar Kollegen beim Bellevue auf den See hinausgerudert. Sie hatten schon ein paar Aperitifs getrunken, Feierabend. Nach einer Weile kamen die Kollegen zurück. Aber der Grossvater war nicht mehr dabei. Niemand konnte sagen, was geschehen war. Man fand ihn nie. Wahrscheinlich liegt er jetzt noch irgendwo auf dem Seegrund beim Bellevue.
Meinen Pape fand man dafür. Das war im Fünfunddreissig, da war ich gerade zwölf geworden und der Vater zweiundvierzig. An einem Freitagabend im September kam er auch nicht mehr nach Hause. Er war die ganze Woche auf der Reise gewesen und hätte heimkommen sollen an die Zapflerstrasse, aber er kam nicht. Meine Mutter wartete und wartete und war sehr nervös, weil auch kein Anruf kam. Gegen Morgen telefonierte sie auf die Polizeiwache Örlikon. Und der Polizist sagte: »Gute Frau, beruhigen Sie sich. Der wird bei einer sein. Der wird schon wieder kommen.« Nicht gerade die feine Art. Es wurde Samstag, und er kam nicht. Die Mutter weinte nur noch und telefonierte herum. Sie fand eine Frau, bei der der Vater zuletzt gewesen war, in einem Kaff hinter Bülach. Die erzählte ihr, dass er bei ihr am Abend um sechs weggegangen sei, dass er den Zug verpasst habe und zu Fuss nach Kloten laufen wollte. Zu einem Freund, der eine Zigarettenfabrik besass und ein Auto. Der hätte ihn nach Hause fahren sollen. Eine Woche später hätte mein Vater selber ein Auto bekommen. Er war schon angemeldet für die Fahrstunden. Dann wäre das nicht passiert. Janu, das war zu spät.
Am Sonntag kam ein Onkel mit Militär, die suchten die Gegend ab. Der Onkel fand den Pape, am Rand vom Bülacher Wald. Am Strassenrand, im Gebüsch. Er war noch aufgestützt, so, auf die Ellbogen. Anscheinend hatte er versucht, noch einmal aufzustehen. Er hatte eine Mappe mit Müsterchen bei sich gehabt, die war weg. Auch die zwanzig Franken, die er jeweils auf die Reise mitnahm, waren weg. Und auch die Taschenuhr, eine Plaqué, kein echtes Gold, war weg. Das Messer hatten sie ihm gelassen. Er hielt es in der Hand, das rote, mit offener Klinge. Alles war voller Blut. Ein Loch im Nacken und ein Loch im Rücken, von hinten erschossen. Den Mörder fand man nie.
Es hiess nachher, er habe mit der Nationalen Front sympathisiert. Die Rechten sagten das, und die Linken sagten das auch. Es sei wahrscheinlich ein politischer Mord gewesen. Dabei war er nicht dabei bei denen, er war nirgendwo dabei, nur bei den Handelsreisenden. Man hatte meinen Vater für zwanzig Franken und eine unechte Uhr umgebracht. Aber die Zeitungen fanden einen besseren Grund. Der Hitler war in Deutschland schon an der Macht, alles war aufgeheizt. Für uns war der Vater einfach tot.
Von einem Moment auf den anderen wurde es sehr still in unserer Wohnung. Eine Witwe bleibt meistens einsam, das habe ich später oft beobachtet. Mutters Leben fiel um, zack. Wir zogen Hals über Kopf in die winzige Wohnung an der Langackerstrasse. Die konnte sie mit den hundertachtzig Franken von der Suval, der Unfallversicherung, gerade bezahlen. Die Mutter litt von jetzt an nur noch, furchtbar. Oft schwänzte ich die Schule, weil ich befürchtete, dass sie den ganzen Tag heult und sich etwas antut. Davor hatte ich am meisten Angst. Ich blieb bei ihr und log in der Schule, fälschte auch Unterschriften, damit ich sie im Auge behalten konnte. Nicht unbedingt aus Erbarmen. Eher aus einer Art schlechtem Gewissen heraus. Wie soll ich sagen – es machte mich wütend, dass sie immer weinte. Sie war sehr schwach, gebrochen, und ich ertrug das schlecht. Und fühlte mich irgendwie verantwortlich.
»Warum ausgerechnet wir? Warum ich?«, das war der Refrain. Der Vater, die fröhlichen Abende und unser schönes Zimmer waren fort, die Mutter ergab sich dem Leiden. Sie klammerte sich von nun an an mich. Ich wurde ihr Lebensinhalt. Der Bruder ging später, sobald er wegkonnte, nach Afrika und verkaufte schwarzen Frauen Nähmaschinen. Mutters einzige Stütze war ich, für alles und jedes, auch finanziell. Ich blieb bei ihr in der winzigen Wohnung, bis ich achtundzwanzig war.
Der Freund meines Vaters, der mit dem Auto, gab ihr eine Stelle in seiner Zigarettenfabrik, Mahalla hiess sie. Sie kannten sich von Seebach, er hatte bei der Turmac angefangen, einer anderen Zigarettenfabrik. Bis ich etwas verdiente, arbeitete die Mutter dort. Sie schob grossbusige Amerikanerfrauen zwischen die Zigaretten, so ein glänzendes Filmstar-Bildchen kam in jedes Päckchen. Die gingen weg wie warme Semmeln. Sie begann dort auch zünftig zu rauchen. Am Morgen stellte die Firma den Frauen am Arbeitsplatz Hunderterschachteln Zigaretten zur freien Verfügung, als Zwischenverpflegung. Manchmal brachte sie uns Bildchen nach Hause.
Die Verantwortung zu Hause nach dem Tod meines Vaters musste ich übernehmen, mit zwölf. Über Mittag rannte ich heim und kochte Mahlzeiten, die der Bruder nie ass. Ich konnte gar nicht kochen, und er ass nie, was ich fabrizierte. Bis es nicht mehr ging. Wir stritten nur noch und assen zudem nichts. Da musste der Bruder in den Hort, und ich hatte wieder mehr Zeit, mich auf die Sekundarschule zu konzentrieren. Ich hatte Pläne und eine Begabung für Sprachen. Ich sehnte mich danach, fortzukommen aus der Enge, unabhängig zu sein und frei. Ich wollte Dolmetscherin werden, die waren selbständig und kamen auch als Frauen in die Welt hinaus. Mein riesengrosser Traum war das.
Nach der Schule ging ich also ins Welschland fürs Französisch, danach nach Italien, und zum Schluss wollte ich nach England. Dann in die Dolmetscherschule. Die Sprachaufenthalte bezahlte die Versicherung. Für jedes Kind bekam die Mutter Ausbildungsgeld, aber nur für das. In Mailand konnte ich bei einem Onkel wohnen, dem Bruder der Mutter, er hatte eine riesige Wohnung. Der war Ingenieur und Royalist. Nach dem Studium in der Schweiz war er nach Italien gegangen, weil er in Abessinien für »seinen König« kämpfen wollte, wie er sagte. Aber der König wollte ihn gar nicht. Da verliebte er sich stattdessen, blieb in Mailand, entwarf Lifte und verspielte viel Geld bei Pferdewetten. Mein Kostgeld kam ihm sehr gelegen. Aber ich musste es hüten wie die kleinen Kinder des Onkels, sonst landete auch mein Geld bei den Pferden, bevor es die Tante zu Gesicht bekam.
Ich fühlte mich sofort zu Hause in Italien. Die Lebensart, der Betrieb, das Essen, die Leute, alles gefiel mir. Jeder im Haus kannte mich, man besuchte einander, schwatzte, umarmte und stritt sich, freute sich aneinander. Alles war offen und herzlich und lustig. Ich hätte für immer dortbleiben wollen. Ich ging in die Schule und mit den Kleinen spazieren, nahm wieder Klavierstunden und flirtete mit den italienischen Ragazzi, die konnten das. Natürlich auch mit den Schwarzkäpplern, die überall herumstanden, mit allen. Ich war sechzehn und sah in den Käppchen wenig Unterschied. Das Leben war herrlich, es hätte ewig so weitergehen können.
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