Der grösste Verlust war das Odeon, dort hat der Niedergang dieser Lokale begonnen. Ich glaube, es gibt unter den Künstlern auch diesen Zusammenhalt nicht mehr. Wir gingen regelmässig an die Luft, spazieren. Wir wussten, wo man die anderen trifft. Keiner musste telefonieren, die meisten hatten gar kein Telefon und wahrscheinlich auch keine Lust, sich an einen Apparat zu hängen. Wir hatten Orte, wo wir uns trafen, jammerten, diskutierten, feierten. Diese Orte waren so wichtig wie das Zuhause, für manche wichtiger. Mir scheint, jetzt hockt jeder für sich in seinem Atelier oder Loft und brütet fürs nächste Stipendium. Tüftelt über dem Businessplan, den er dafür abgeben muss. Das kreiert ganz andere Künstler.
Den Dürrenmatt zeichnete ich als jungen Mann im Spital, vor Urzeiten. Den besuchte dort kaum jemand, er war oft krank. Mit dem Dürrenmatt hatte ich eine freundschaftliche Beziehung, die richtige Mischung aus Anteilnahme und Distanz. Ich kannte ihn vom Hohl und vom Schifferli. Wir mochten uns, wir redeten über alltägliche Dinge, Verlegerprobleme, Finanzprobleme, Gesundheitsprobleme und »In welche Beiz gehen wir? Kennst nicht noch etwas anderes als immer diese Kronenhalle?«. Aber er musste nie meine Zeichnungen begutachten, und ich musste nie seine Stücke kommentieren. Ich zeichnete sie nur. Unser Verhältnis war sehr entspannt.
Tausende von Zeichnungen habe ich im Theater gemacht, auch in Opern und im Cabaret. Vom Dürrenmatt und vom Max Frisch zeichnete ich sämtliche Stücke, aber auch von anderen Autoren, die ein kleineres dramatisches Werk schufen. Liegt tutti quanti versammelt in Mappen und Blöcken in den Tiefen meines Theaterschranks. Wohl ziemlich alles wurde in diesem »Work in Progress« festgehalten, was nach dem Zweiten Weltkrieg im Theater passierte. Was im Theater passiert, passiert auch im Leben, das ist wie ein Spiegel. Ich vermute, wenn man diese Zeichnungen in ihrer Abfolge von Jahrzehnten in einen Zusammenhang stellte, käme Interessantes zum Vorschein. Bis jetzt habe ich keine Zeit gefunden, mir das einmal genauer anzusehen. Sie liegen da einfach, und ich arbeite weiter.
Zeichnen ist eigentlich schnell, das passt mir. Man kann die Augen schweifen lassen, flüchtige Eindrücke einfangen, überblenden. Man kann an vielen Orten gleichzeitig sein und es zusammenfliessen lassen. Das Zeichnen liebe ich, schon immer. Malen ist langsam. Dafür hat man keinen Termindruck, kann sich endlos Zeit lassen.
Vor kurzem gab es eine Ausstellung im Centre Dürrenmatt in Neuchâtel. Die nannte ich »Der Besuch der alten Malerin«. Das ist doch gut, alt gefällt mir. Eine Bekannte meckerte sofort, alt könne man doch nicht sagen, das klinge schrecklich. Ich habe kein Problem mit diesem Wort. Ich sehe darin eher einen Rang als eine Beleidigung. Ich hätte auch kein Problem mit Ihrem Untertitel »Alte Frauen erzählen«. Die Leute zucken zusammen beim Wort alt, das ist ziemlich neurotisch. Ich muss sagen, ich hatte die alten Leute immer schaurig gern. Das tönt zwar, als wäre ich selber noch jung, aber es ist so. Ich bin in meinem Leben vielen Alten nachgelaufen, um sie zu zeichnen. Altes ist meistens interessanter als Junges, es ist mehr Leben drin. Und etwas ist ganz fabelhaft. Jetzt, wo ich selber alt bin, ist Altsein irgendwie schick. Suddenly you’re old and in.
Ich möchte aber gern noch ein paar Jährchen leben. Vor allem, um Zeit zu verlieren. Das ist mir wichtig im Leben, Zeit verlieren. Weil ich nämlich, indem ich Umwege machte, meistens zu einem guten Ziel kam. Da finde ich zum Beispiel eine Stelle in der Stadt, die ich noch nie betrachtet habe. Auf dem direkten Weg hätte ich sie nie gefunden. Immer, wenn ich einen Umweg machte oder machen musste, ist am Schluss etwas Gutes herausgekommen. Darum muss ich Zeit verlieren, wie andere Fitnesstraining machen. Verlieren tönt negativ, wie das Wort alt. Aber es ist gewinnen. Also möglichst viel Zeit verlieren. Und dann weitermachen, weitermachen bis zum Ende. Und wieder anfangen.
9. 8. 1923–12. 7. 2020
In dieser Küche wird gearbeitet. Sie ist der Mittelpunkt einer kleinen Wohnung mit grossem Balkon. Seidenblumen stehen frisch auf dem Tisch. Im antiken Geschirrschrank lehnen keine Porzellanteller, sondern Marien, Jesuskinder, Apostel mit goldenem Hintergrund und warten auf ihre Vollendung. Fränzis Abenteuer sind heute Ikonen .
Enge gefiel mir nie. Ich fühlte mich schnell eingesperrt und angebunden, das hielt ich nicht aus. Ich hatte es gern, wenn etwas lief, sonst wurde es langweilig. Meine Kindheit war nicht gerade ruhig. Aufgewachsen bin ich in Örlikon, an der Zapflerstrasse, die heisst heute Probusweg. Zuerst waren wir im Eisernen Zeit, das war etwas Edleres. Dann gingen wir hinunter nach Seebach, das war billiger. Dann an die Rütlistrasse, das war ein bisschen grösser. Sie heisst heute Berninastrasse. Dann hinauf an die Zapflerstrasse, die war heller. Danach mit der Mutter noch an die Langackerstrasse. Die Strassennamen änderten, als das Dorf Örlikon zu Zürich kam im Vierunddreissig. Wir waren drei Kinder, ich bin die Älteste, dann kam das Anita, dann der Theo. Das Anita ist plötzlich gestorben an der Rütlistrasse. Es war ein wenig feucht dort. Sie war schwach und starb an einer Lungenentzündung, mit drei Jahren. Da zogen wir weiter, ich war in der Chegelischule, im Kindergarten. An der Zapflerstrasse war alles modern. Die Kühe vom Milchbuck und von der Hirschwiese weideten bis vor unser Haus.
Dass wir so viel umzogen, hatte auch mit meinem Pape zu tun, mit seinen Geschäften und Zeug und Sachen. Er war eigentlich Drogist, zwischendurch hatte er einmal eine Drogerie. Zur Palme hiess das dort, am Schaffhauserplatz. Es lief aber nicht, und wir gingen Konkurs. Wahrscheinlich, weil mein Vater zu wenig Wissen und Erfahrung hatte als Geschäftsmann. Er wurde wieder Reisender, Handelsreisender in Drogeriewaren. Ich erinnere mich nicht im Detail, ich war noch klein in der Palme. Die Mutter erzählte mir davon, als ich später mit diesem Schuldschein nach Hause kam. Das war kurz nach Vaters Verschwinden, wir wohnten schon wieder woanders.
Das mit dem Pape war in der Zeitung rumgeschleppt worden, und eines Tages – Jahre später – sprach mich beim Caveglia an der Löwenstrasse im Treppenhaus einer an. Ich arbeitete dort und kannte den flüchtig, weil er im gleichen Haus wohnte. Er hatte einen griechischen Namen und handelte mit Schwämmen, auch ein Reisender. Er fragte mich, ob ich die Tochter sei von diesem Utinger in der Zeitung. Und dann überreichte er mir einen Schuldschein, den habe er vor Jahren bei Vaters Konkurs bekommen. Aber er werde ihn nie einlösen, die Mutter habe genug Kummer. Sie brach wieder in Tränen aus, als ich ihr den Schein brachte.
Der Vater war beim Wernle als Drogist angestellt gewesen, die Mutter arbeitete dort im Büro, so hatten sie sich kennen gelernt in den Zwanzigerjahren. Er war Zuger, sie hiess Viola und war die Tochter von Giovanni Giacomin, einem eingewanderten italienischen Gemüsehändler aus dem Zürcher Niederdorf. Auch mit diesem Grossvater kam es nicht gut. Die Mutter brachte uns jedenfalls nie Italienisch bei, sie schämte sich eher, Italienerin zu sein. Die Italiener waren die Fremden in der Schweiz, und Fremde waren sehr unbeliebt. Ich lernte dann später selber Italienisch.
Der Vater hatte viel vorgehabt, mit sich und mit uns. Er wollte selbständig sein, der Familie etwas bieten. Darum war er oft nicht da, auch über Nacht nicht, weil er herumreiste, um Geld zu verdienen. Ohne Auto, mit dem Zug, mit dem Velo oder zu Fuss. Es lag ihm viel an unserer Erziehung, er war ein guter, aber strenger Vater. Wenn er zu Hause war, wollte er immer, dass ich mich ruhig zu ihm setze und mit ihm zeichne. Ich weiss noch, ich musste Zeichnungen machen, er zeigte mir die Schattierungen und Zeug und Sachen. Wenn ich zu schnell war, sagte er: »Nicht kritzeln, Fränzi. Langsam.« Er malte selber auch, und mit meinem Bruder machte er Mechanik. Handwerklich war er sehr begabt, er baute uns ein Zimmer aus alten Obstkistchen, Stühle, Schränke, Regale, und strich alles grün und orange an. Ein wunderschönes Kinderzimmer hatten wir.
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