Aber dann kam der Krieg und ein Anruf der Mutter. Ich müsse auf der Stelle nach Hause kommen. Die Schweizer Grenzen gingen zu, und dann könne niemand mehr heim. Aus der Traum, sie brachten mich auf den Zug. Diese Reise zurück in die enge Wohnung der Mutter war schrecklich. Immerhin wenigstens spannend, sie verhörten mich nämlich. Ein Grenzpolizist mit Pelzkäppchen bewachte mich bis Göschenen und löcherte mich. Woher ich käme, wo ich wohne in der Schweiz, mit wem ich zusammen gewesen sei in Mailand und was ich vorhabe. Er merkte dann, dass ich eine gewöhnliche Sprachschülerin war und keine Spionin. Auch im Gepäck fand er nichts, damals hatte ich noch nichts zu verbergen.
So landete ich wegen diesem blöden deutschen Krieg wieder bei der Mutter. Ich weiss ja, dass die heutigen Deutschen nichts dafür können, aber das habe ich ihnen nie verziehen. Statt mich in Mailand oder London auf ein Leben voller Abenteuer vorbereiten zu können, musste ich zurück zur Mutter nach Örlikon und in eine Schule für Haushalt. Alles konnte ich mir vorstellen, aber niemals, Hausfrau zu werden. In einer kleinen Wohnung mit Kindern eingesperrt sein und Hemden bügeln. Auf einen Ehemann warten. Weder von einem Chef noch von einem Ehemann wollte ich abhängen. Vielleicht wusste ich das damals noch nicht so klar, ich sah nur dieses Bild, wie ich eingesperrt bin, warte und bügle. Oder vor einem Stenoblock hocke und aufs Diktat warte.
Man musste nehmen, was es gab, ich hatte keine Wahl. Dolmetschen ohne Englandaufenthalt kam nicht in Frage, also lernte ich Stenografie in vier Sprachen und Schreibmaschineschreiben wie der Teufel, das konnte man immer brauchen. Ich bewarb mich und wurde sofort genommen, für hundertzwanzig Franken im Monat. Die meiste Zeit des Krieges verbrachte ich mit Arbeiten, auf Partys und in der Oper. Wir sagten nicht Partys, wir sagten eigentlich gar nichts, wir trafen uns einfach und feierten die Nacht durch. Ich hatte eine Stelle bei der Kugellagerfabrik SRO, Schmid-Roost Oerlikon, und das Leben war trotz Krieg wieder etwas weniger deprimierend. Ich war verliebt in den Hagi, und wir trafen uns alle meistens beim Maieli, die hatte schon eine eigene Wohnung. Der Mutter sagte ich jeweils: »Ich bin eingeladen bei der Kollegin.« Was wir machten, sagte ich nicht, und sie fragte auch nicht. Wahrscheinlich dachte sie, es sei besser, wenn sie nicht zu viel wusste. Sie liess mich gehen mit dem Spruch: »Ich habe dich erzogen, du weisst, was sich gehört.« Als sie älter wurde, verlor sie jedoch diese Gelassenheit und erwartete, dass ich sogar am Mittag nach Hause komme zum Essen. »Jetzt habe ich dir extra Schnittlauchwähe gemacht«, jammerte sie und hatte wieder einen Grund, unzufrieden zu sein.
Dass die Mutter mit ihrem Leben haderte, konnte ich verstehen. Aber dass sie mir deshalb quasi verbot zu heiraten, das nahm ich ihr übel. Vielleicht wollte sie mich unbewusst davor bewahren, ewig auf jemanden warten zu müssen, der nicht kommt. Ich verzieh es ihr jedenfalls nicht, dass sie hinter meinem Rücken dem Hagi sagte, er müsse sich nicht einbilden, mich heiraten zu können. Es werde noch nicht geheiratet, zuerst müsse etwas Rechtes aus mir werden. Und sowieso brauche sie mich noch. Das machte mich wahnsinnig wütend. Ich hatte nie vorgehabt, sie zu fragen, ob ich heiraten dürfe. Eigentlich merkwürdig, dass ich nicht aus Trotz heiratete.
Die Oper war meine grosse Leidenschaft. Ballett liebte ich über alles. Überhaupt die Musik, seit der Vater lachend mit seiner Geige neben mir musiziert hatte. Wenn man zur Musik auch noch tanzen konnte, wunderbar. Ich ertrotzte bei der Mutter Klavierstunden, bis ich selber etwas verdiente, aber bei den Ballettstunden weigerte sie sich. Ein paar Stunden stotterte ich mir zusammen, und dann sah ich in der Zeitung eine Anzeige. Der Herr Rosen an der Seerosenstrasse suche Statisten fürs Opernhaus. Man bekomme dafür Gratisunterricht beim Ballettmeister. Ballett gab es kaum zu der Zeit, nur in Operetten und Opern. Ich raste an die Seerosenstrasse, tänzelte vor dem Rosen in einem Haufen junger Mädchen quer über die Bühne, wurde rausgezupft und konnte bleiben. Und bekam nun zweimal in der Woche Ballettstunden beim Rosen und beim Hans Macke, das waren grosse Männer. Eigentlich war ich viel zu alt fürs Ballett, aber für den Hintergrund ging es.
Wir machten alles, was das Ballett nicht machen wollte. In Operetten hatten wir sogar leichte Rollen. Und da passierten immer Zeug und Sachen. Wir Statisten waren beliebte Opfer für die vom offiziellen Ensemble. Einer hiess Pistorius, ein Sänger, der hatte es auf mich abgesehen. Beim Weihnachtsmärchen versteckte er sich hinter dem grossen Christbaum, ich stand als erster Engel davor und sollte den Ton geben für »Stille Nacht«. Und hinter dem Baum sang der Pistorius leise, aber laut genug: »S Bäbeli hät –, s Bäbeli hät –, s Bäbeli hät es Loch im Buch«, so dass ich furchtbar falsch sang. Es war nie langweilig an der Oper. Im »Lohengrin« spielte ich fünfunddreissigmal den Pagen, und jedes Mal gern.
Bei der Arbeit war weniger los. Ich war bei der Firma König in der Enge angestellt, die handelten engros mit Uhren. Ich machte Korrespondenz und Fakturierung. Der Wirtschaft ging es mies, die Grenzen waren zu, und die Schweizer hatten andere Sorgen, als Uhren zu kaufen. Wenn gar nichts lief, setzte ich mich manchmal ins Gärtchen vor dem Haus an die Sonne und schaute den Passanten zu. Diese Gewohnheit behielt ich während all den Jahren, die ich in der Enge war. Eine Zeit lang spazierte jeden Tag der Hund von der Papeterie Nabholz vorbei, mit einem Lehrling an der Leine. Der musste den Hund vom Chef spazieren führen im Parkring. An den Spaniel erinnere ich mich genau, aber seltsamerweise an den Lehrling am anderen Ende der Leine nicht. Obwohl das ein hübscher Boy war, aber sehr viel jünger als ich. Wenn ich gewusst hätte, dass er viele Jahre später der wichtigste Mann in meinem Leben würde, hätte ich wohl genauer hingeschaut.
Als der Krieg fertig war, wollten alle Uhren. Die Zeit wurde irgendwie kostbar. Vielleicht, weil niemand nach diesen Jahren der Erstarrung mehr Zeit verlieren wollte. Manchmal zogen wir die ganze Nacht hindurch Uhren auf, in den Geschäftsräumen an der Ulmbergstrasse tönte es wie in einem Wespennest. Der Export begann zu blühen. Wir verschickten die Uhren hauptsächlich nach Amerika, nach Deutschland und Skandinavien. Oft verpackten wir fünfhundert Rosskopf pro Sendung, billige Armbanduhren. Wir mussten sie vorher aufziehen und kontrollieren, ob sie richtig liefen. Für diese Extrastunden gab uns der Chef ein Zwanzigernötli, manchmal auch vierzig Franken. Er behandelte uns gut, die Frauen besonders. Bis er ins Chefi kam, eingelocht wurde wegen Unsauberkeiten in der Buchhaltung. Da schlug meine Stunde. Der Traum vom eigenen Geschäft rückte so in die Nähe, dass ich nur noch zugreifen musste.
Mit leeren Händen notabene, ich hatte ja nichts. Aber mein Compagnon, auch ein ehemaliger Mitarbeiter aus der Firma, trieb eine Tante auf, die mir Geld lieh. Ich konnte zwanzigtausend Franken Aktienkapital in die eigene Firma einzahlen. Mein Compagnon übernahm den Rest. Es war nicht mein Geld, aber schon das eigene Geschäft. Bis es auch mein Geld würde, war es ein weiter Weg. Es hiess arbeiten, das Geschäft in Schwung bringen, das Darlehen abarbeiten. Überhaupt die ganze Welt wieder in Schwung bringen.
Viele unserer Engros-Kunden waren GIS und Juden. Und Radrennfahrer. Ich kannte einige von der berühmten Offenen Rennbahn in Örlikon. In Örlikon kannten alle die Radrennfahrer. Den schönsten sowieso, den Hugo Koblet, der brachte sich leider um. Den Oskar Plattner, der so oft am besten fuhr und doch nicht gewann. Der wohnte ganz in unserer Nähe und machte später eine Bar auf an der Langstrasse. Den Fritz Pfenninger und den Fritzli Schär, den wir Pillenfritz nannten, weil er vor den Rennen immer so viele Pillen ass. Auffallend viele Pillen. Den Jacques Besson. Die Rennbahn war der wichtigste Treffpunkt der Jugend von Örlikon. Nach den Rennen traf man sich beim Stiere Egge vis-à-vis vom Kino Excelsior, wo jetzt die Beiz ist vom Rennfahrer Nannini, dem Bruder von dieser Sängerin Gianna Nannini. Vis-à-vis vom Stiere Egge wohnte auch eine Sängerin. Die Lys Assia, die war sehr häufig auf der Rennbahn. Ich hatte später einen Kunden, der bluffte damit, dass er dem Rosli Schärer, wie sie in Örlikon hiess, die Unschuld raubte. Diese Rennfahrer kamen alle zu uns, Superkunden, sie kauften in grossen Mengen ein und nahmen die Uhren in ihre Heimat mit oder an Radrennen im Ausland. Die Rennradreifen auf den VW-Bussen der Mannschaft waren doch meistens vollgestopft mit billigen Schweizer Uhren. Der Schwarzmarkt blühte.
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