Dann ging alles ganz schnell. Sie verabredeten sich für den nächsten Vormittag um zehn Uhr vor der nahegelegenen Moschee. Harry war selig. Der Abschied von Yamalia fiel mit einem sehr dezenten, mehr gehauchten Küsschen für seinen Geschmack recht spartanisch aus. Aber er hatte die Verabredung für morgen. Eine Verabredung für drei Tage und drei Nächte. Ihm wurde ganz schwindelig und ganz heiß. War das Glück? War das Erwartung? Oder war es nur Trieb? Oder vielleicht sogar wirklich Liebe?
Als sie die Kaserne erreichten und den Wachhabenden mit viel Überredung und ein paar Scheinen dazu brachten, ihre Rückkehr um einige Stunden zurückzudatieren, kamen Harry allmählich Bedenken und Zweifel. Wie sollte er es anstellen, drei Tage und Nächte Urlaub zu bekommen? Immer wieder wachte er in dieser Nacht auf und überlegte sich neue Strategien. Am nächsten Morgen ging er ganz früh zum Commandeur. In strammer, formvollendeter Haltung meldete er, dass Colonel Jerez, durch dessen Empfehlung er zum Protegé-Praktikanten wurde, gestern in Mascara eingetroffen sei und heute für drei Tage an die Seenplatte von Tiaret reisen wolle. Als er gehört habe, dass Harry krankgeschrieben war, habe er darum gebeten, ihn zu begleiten. „Der Colonel hat mir aufgetragen, Ihnen seine besten Empfehlungen zu übermitteln, mit der Bitte, mir drei Tage Urlaub zu geben, damit ich als eine Art Begleitschutz mitkommen kann.“
Der Commandeur sah ihn etwas zweifelnd an und es dauerte eine Zeit lang, bis er sich zu einem positiven Entscheid durchrang. „Nun gut, der Name von Colonel Jerez ist in der Legion bekannt, fast schon legendär. Sie bekommen Ihren Urlaubsschein. Sie fahren in Zivil, nehmen aber besser eine Waffe mit.“
Stramm bedankte sich Harry. Er musste sich zwingen, nicht laut zu jubeln. Schnell packte er eine kleine Reisetasche. Ganz unten, unter dem Hemd und der Wäsche zum Wechseln, legte er seine Dienstwaffe und den Urlaubsschein. Rechtzeitig erreichte er den vereinbarten Treffpunkt. Etwas unwillig schob er die Gedanken weg, die ihn kurz streiften. Gedanken wie: Das ist alles auf Lügen aufgebaut und außerhalb der Legalität. Hier gibt es keinen Ex-Colonel Jerez, also bist du als Legionär alleine. Das ist strikt verboten und es ist ja wohl auch gefährlich. Aber diese Gedanken waren unerwünscht, also weg damit. Ein triumphierendes Hochgefühl, wie auf Wolke sieben, setzte sich in seinen Empfindungen durch. Mensch, Harry, du bist tatsächlich mit der Schönheitskönigin dieses Landes verabredet. Aber der Titel war nicht so wichtig. Ihm wurde heiß, wenn er an die rassige Schönheit Yamalias, ihr blitzenden Augen, ihr betörendes Lächeln, ihre verlockenden Lippen und auch ihr lockeres, intelligentes Geplauder dachte.
Er beobachtete das bunte Treiben vor der Moschee, ohne es wirklich aufzunehmen. Etwas nervös steckte er sich eine Zigarette an. Schon zehn Minuten über der Zeit. Vielleicht kommt sie gar nicht. Vielleicht hat sie mir meinen gestrigen, etwas abrupten Aufbruch doch übel genommen. Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen. Vielleicht hat sie es gar nicht ernst gemeint. Harry wurde langsam richtig zappelig. Gerade wollte er sich eine weitere Zigarette anstecken, als ein kleiner Citroën neben ihm hielt und Yamalia ihm strahlend winkte, einzusteigen. Mein Gott, war sie wieder schön. Harry fühlte körperlich, wie sein Herz anfing zu glühen, als er sie in dem engen Wagen zur Begrüßung kurz in den Arm nahm. Yamalia trug ein luftiges, ärmelloses, rotes Sommerkleid. Harry strahlte sie an und sagte spontan, ehrlich und voller Elan, wie sehr er sich auf ihren gemeinsamen Ausflug freue.
Sie lächelte ihn verheißungsvoll an, wurde dann aber für kurze Zeit ganz ernst. „Ich war mir nicht so sicher, ob es richtig ist.“ Übergangslos wies sie auf eine kleine Ansammlung wunderschöner Palmen, als sie die Außenbezirke von Mascara hinter sich ließen. „Ist mein Land nicht schön?“ Wieder wurde sie ernst. Harry hatte den Eindruck, dass sie ihren verlockenden Mund, ihre vollen roten Lippen wütend zusammenkniff. Eine steile Falte, die er noch gar nicht an ihr gesehen hatte, erschien zwischen ihren sanft geschwungenen Augenbrauen. „Wie viel Krieg, wie viel Grauen und wie viel Blut braucht es wohl noch, bis wir endlich wieder ein freies Volk sind?“ Harry schwieg betreten und mit schlechtem Gewissen. Aber sie erwartete wohl auch keine Antwort, sondern erzählte weiter: „Vor über 130 Jahren, im Jahre 1830, haben die Franzosen das erste Mal versucht, Algerien zu erobern. Aber unser Heerführer Abl al-Quadir stellte sich ihnen entgegen und vertrieb die Franzosen in langjährigen Kämpfen wieder. 1837 kam es zu dem Vertrag von Tafna, in dem die Franzosen sowohl Algeriens Selbstständigkeit als auch Abl al-Qadir als Emir von Algerien anerkannten. Keine zehn Jahre später brachen die Franzosen diesen Vertrag und drangen im Osten erneut in Algerien ein und besetzten es schließlich.“
Harry traute sich nicht, etwas darauf zu sagen. Sie schwieg, hatte wieder diesen strengen, zornigen Gesichtsausdruck, dann spuckte sie voller Hass einen Fluch in ihrer Heimatsprache aus, von dem Harry nur das Wort Allah verstand. Er fühlte sich schlecht, wie ein Verräter kurz vor der Entlarvung. Aber Yamalia fuhr fort.
„Nach der Besetzung ging das Ausplündern erst richtig los. Unser Grund und Boden, unsere Heimat wurde ohne Ende einfach enteignet und Neusiedlern übergeben. Es kamen Franzosen, Italiener, Spanier. Alle bekamen unser Land, nur wir Algerier nicht. 1870 bis 1871 kam es zu einem Volksaufstand gegen diese Enteignungen, der in grausamster und blutigster Weise von über 100.000 regulären französischen Soldaten niedergeschlagen wurde. Etwa ein Viertel unserer gesamten Bevölkerung wurde dabei ermordet. Aber die Unabhängigkeitsbewegung wurde nie völlig erstickt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Zehntausende von Algerien auf französischer Seite gekämpft haben, wurden diese als Menschen zweiter Klasse von den Franzosen wieder verstoßen. Es kam wieder zu Unruhen und Aufständen. Bei einem Massaker bei der Stadt Setif wurden dann Zehntausende meines Volkes von der französischen Armee regelrecht abgeschlachtet. 1954 schließlich begann der organisierte Unabhängigkeitskrieg unter der Führung der FLN, der Front de Libération Nationale. Obgleich die Franzosen mittlerweile mit über 300.000 Soldaten hier kämpfen, werden sie genauso scheitern wie in Vietnam. Die Zeit der Sklaverei muss endgültig vorbei sein. Die ersten Verhandlungen über die Beendigung des Krieges und das Erreichen unserer Selbstständigkeit haben bereits begonnen.“
Harry hatte mit atemloser Spannung zugehört. So detailliert, so wahrheitsgemäß, so schonungslos hatte er bisher nicht einmal annähernd vom Algerienkrieg gehört. Kein Instrukteur der Legion hatte über die Ungerechtigkeiten, den Verrat, die Massaker der letzten 150 Jahre gesprochen. Es wurde nur von Rebellen gesprochen, die sich gegen die legitime Obrigkeit mit hinterlistigen und grausamen Mitteln erheben. Aber trotz der mangelhaften und einseitig gefärbten Informationen, die ihm in der Legion eingetrichtert wurden, war Harry innerlich stets davon überzeugt gewesen, dass es nicht richtig sein konnte, ein Volk mit zwanzig Millionen Einwohnern mit Gewalt zu unterdrücken. Irgendwo im Hinterkopf war ihm durchaus bewusst, dass er selbst zu dieser Unterdrückungsmaschinerie gehörte, wenn auch ohne Überzeugung. Er versuchte, von diesen heiklen und unangenehmen politischen Themen wegzukommen. Auf die gerade sehr eintönige Landschaft, sandig und steinig, nur von kargen grauen Büschen unterbrochen, hinweisend, meinte er: „Man hat den Eindruck, als wäre dieses Land völlig leer. Keine Ortschaften, nicht einmal Bäume.“
Yamalia ging eifrig darauf ein: „Du glaubst gar nicht, wie vielfältig unser Land ist. Angefangen bei den herrlichen Stränden am Mittelmeer. Wir haben Gebirge, Wälder, herrliche Oasen. Warte nur, bis wir bei unserer Seenplatte angekommen sind.“
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