„Komm, du Schlafmütze, steh auf, wir wollen frühstücken gehen.“
Brummend ging Harry unter die Dusche und wurde endlich richtig wach. Er fühlte sich wohlig eingebettet von dem Erlebnis einer vollendet schönen Liebesnacht. Darunter kam eine Schicht großer Traurigkeit vor dem nahen Abschied. Still gingen sie die kleine Strecke zu dem Bäcker mit angeschlossenem Bistro. Auch bei ihrem Milchkaffee und den Frühstücksbrötchen redeten sie nicht viel. Harrys Gedankenkarussell drehte sich immer wieder um diese Frage: Wie kann ich ihr die Wahrheit sagen, ohne sie zu verlieren?
Yamalia, wunderschön, war ganz still und trotz ihres dunklen Teints etwas blass. Ihre Gedanken kreisten ebenso ergebnislos um eine Frage: Wie kann ich, als führendes Mitglied der Freiheitsbewegung, mit ihm, einem Ausländer, von dessen Gesinnung ich nicht wirklich etwas weiß, zusammenbleiben?
Still sahen sie sich an. Harry ertrank wieder in ihren wunderschönen Augen. Ihre Hände fanden sich und verschränkten sich ineinander. Harry sagte leise: „Die Liebe ist ein seltsames Tier, es fällt uns Menschen an und macht uns an einem Tag tollwütig vor Glück und vielleicht am nächsten Tag abgrundtief traurig vor Kummer.“
Yamalia lächelte etwas gequält. „Komm, mein kleiner Poet, lass uns gehen.“
Voller Wehmut packten sie ihre wenigen Reiseutensilien in die Taschen. Still standen sie sich gegenüber, jeder eine Tasche in der Hand, wortlos, lange wortlos. Dann murmelte Harry: „Ich möchte nicht weg.“
Yamalia sah ihn an. Ihre traurige Miene wandelte sich. Erst langsam, dann blitzartig von Trauer in pure Leidenschaft. Sie ließ ihre Tasche fallen und sprang Harry regelrecht an. „Ich will auch nicht fort. Ich möchte mit dir für immer hier zusammen sein.“
Harry schleuderte seine Reisetasche fort und nahm sie in die Arme. Sie verloren sich in einem endlosen Kuss. Sie konnten sich nicht loslassen. Jedes Zeitgefühl verlor sich. Sie klammerten sich aneinander, küssten sich, verbissen sich ineinander und murmelten unverständliche Liebesschwüre. Endlich lösten sie sich.
„Wir müssen die Wohnung räumen, die nächsten Bewohner kommen bald.“
Harry war ganz leer. Fahrig nahm er seine Tasche auf. Dabei polterte der Revolver auf die Fliesen und der Urlaubsschein segelte ein Stück weiter auf den Boden. Yamalia sah mit starren Augen auf die Waffe. Dann nahm sie den Urlaubsschein auf und las ihn. Ihr Schrei hatte etwas Unmenschliches.
„Nein, nein, das kann doch nicht sein! Du bist Legionär! Du gehörst zu den schlimmsten Mördern! Du Schwein! Du Verräter! Du hast mich verraten! Nein, nein, das ist so teuflisch. Nein, nein!“ Ihr Blick wurde ganz starr. Abgrundtiefe Verzweiflung flackerte darin auf und dann so etwas wie Irrsinn. Wie eine Furie stürzte sie sich auf den Revolver und richtete ihn auf Harry. „Ich bringe dich um! Du Schwein! Du Verräter! Wie kannst du mir das antun? Krepieren sollst du!“ Tränen liefen über ihr schönes Gesicht. Aber der mörderische, verzweifelte, irre Blick blieb.
Harry stand ganz still. „Yamalia, wenn du es tun musst, dann erschieß mich. Aber was sollte ich denn tun? Sofort, als ich dich das erste Mal gesehen habe, war ich voller Verlangen nach dir, voller Begierde und dann voller Liebe. Ich hatte nur einen Gedanken, ich wollte dich. Ich wollte dich ganz. Ganz und gar, mit Haut und Haaren. Alles andere war unwichtig, war gar nicht mehr da. Wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte, hätte ich doch nie eine Chance gehabt. Und ich bin kein Feind. Ich kämpfe nicht gegen Algerien. Ich bin auch kein richtiger Legionär. Ich bin nur Praktikant, nur für neun Monate dabei, und in drei Monaten ist Schluss. Dann gehe ich wirklich nach Valencia an die Universität. Dieses Dreivierteljahr Praktikum war meine Eintrittskarte für das Studium. Das hat mir mein spanischer Gönner, der mir den Studienplatz besorgt, quasi zur Bedingung gemacht. Ich fühle mich unendlich elend, unendlich schlecht, abgrundtief verzweifelt, dass ich dich getäuscht habe. Aber ich konnte nicht anders. Ich begehrte dich, ich liebe dich vom ersten Moment an. Und ich liebe dich auch jetzt und mehr denn je, und das wird sich auch nie ändern. Wenn du es also tun musst, dann erschieß mich. Diese drei Tage waren es wert, zu sterben. Ich konnte nicht anders. Ich kann nicht anders. Ich liebe dich.“
Yamalia sah ihn weiter mit diesem Blick eines weidwunden Tieres an. Voller Seelenpein, Verzweiflung und Schmerz. Der Revolver war immer noch auf Harry gerichtet. Dann senkte sie den Blick, warf den Revolver auf das Sofa und verbarg das Gesicht hinter ihren Händen. Sie taumelte zum Kissensessel, saß ganz still, sagte kein Wort und die Tränen quollen unter ihren Händen hervor.
Nach einer endlos langen Zeit der Stille und der Verzweiflung versuchte Harry es noch einmal mit rationalen Argumenten. „Der Krieg ist doch praktisch vorbei. Es laufen schon Friedensverhandlungen in Genf. Es werden schon Truppenteile abgezogen. Die Franzosen werden alle gehen, alle gehen müssen. Algerien wird frei sein. Schon bald! Dann können wir uns auch wiedersehen, in Spanien, in Valencia, oder auch in Algier.“
Yamalia erhob sich wie eine alte Frau. Mit leeren Augen sah sie Harry an. „Nimm deine Sachen, wir müssen gehen. Und sei still!“
Die Fahrt verlief schweigend, qualvoll schweigend. Über eine Stunde kein Wort. Bei einem Obststand am Straßenrand bremste sie mit den Worten „Ich habe Durst“ ab. Schweigend stiegen sie aus. Yamalia besorgte zwei Gläser Saft. Schweigend tranken sie. Harry hielt es nicht mehr aus.
„Yamalia, glaubst du mir, dass ich dir nie wehtun wollte? Jedes Wort, das ich dir vorhin gesagt habe, ist wahr. Ich liebe dich, und wenn du mich vorhin erschossen hättest, hätte ich es verstanden. Können wir die Politik nicht vergessen? Wir sind zwei Menschen, die zueinandergefunden haben, und das ist ein großes Geschenk.“
Die einzige Antwort war: „Sei still.“
Nach ewig langer Schweigezeit fragte Yamalia plötzlich, wo er seine restlichen drei Monate in der Legion ableisten werde. Harry war so froh, dass sie etwas mit ihm gesprochen hatte, dass er eifrig erklärte: „Ich bin noch sechs Tage krankgeschrieben, dann werde ich von Mascara auf einen Außenposten versetzt. Der Name ist Fort Sidi Boukekeur.“
Yamalia verriss plötzlich den Wagen so scharf, dass Harry sich erschrocken an die Dachhalterung klammerte. Mit Mühe lenkte sie den Wagen wieder auf die Straße zurück.
„Was war das denn?“
„Nichts.“
Wieder dieses lähmende Schweigen. Harry machte noch einige Gesprächsversuche, aber ohne Erfolg. Schweigend erreichten sie Mascara. Sie hielt an der Moschee. Harry versuchte es noch einmal: „Yamalia, wollen wir so auseinandergehen? Ich liebe dich, wir lieben uns.“
„Harry, du gehörst zu unseren schlimmsten Feinden. Die Fremdenlegion ist von allem Schlimmen das Schlimmste. Ich hätte dich erschießen müssen. Ich konnte es nicht. Ich habe mich schuldig gemacht. Jetzt hör gut zu, ich erläutere das nicht weiter. Geh auf keinen Fall während der nächsten Woche nach Fort Sidi Boukekeur. Auf gar keinen Fall. Leb wohl. Vielleicht können wir uns wirklich einmal wiedersehen, wenn der Krieg vorbei ist.“
Harry war ganz aufgeregt. „Was ist das für eine Warnung, was bedeutet das?“
„Bitte lass mich, ich steige jetzt aus.“
„Aber bitte, lass uns etwas vereinbaren, wie wir uns wiedersehen. Ich werde dir auf jeden Fall von Valencia aus über die Universität Algier meine Adresse mitteilen.“
„Bitte steig jetzt aus, leb wohl.“
Er stieg aus. Yamalia fuhr sofort davon, ohne zu winken, ohne sich umzudrehen.
Alles in Harry war leer. Er stand auf dem Bürgersteig, schaute sich um, aber er nahm nichts wahr. Vor der Moschee saßen einige alte Männer auf einer Steinbank und wuschen sich die Füße. Einige Meter weiter standen einige Berber in weißen Trachten und diskutierten, heftig, laut und mit ausholenden Gesten. Harry sah es, aber er nahm es nicht auf. Langsam, so als trüge er ein Gepäck von mindestens hundert Kilo, und nicht nur seine leichte Reisetasche, ging er in Richtung Kaserne. Abwesend meldete er sich zurück, abwesend ging er in sein Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und brütete vor sich hin. Drei traumhaft schöne Tage hatte er mit seiner Traumfrau verbracht. Jetzt hatte er sie verloren. Für immer? Wahrscheinlich. Er hatte sie belogen, er hatte sie getäuscht, aber verdammt noch mal, er hatte doch keine andere Möglichkeit gehabt.
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