Jetzt waren diese zwölf Wochen Quälerei vorbei. Als Harry zusammen mit seinen 300 Kameraden das Schiff im Hafen von Algier und die bereit stehenden offenen LKWs bestieg, versuchte er, den Duft und das Flair von Afrika zu spüren, zu fühlen, was er bei seinen Afrika-Aufenthalten in seiner Seefahrtzeit gefühlt hatte. Aber es gelang ihm nicht. Es roch nach Benzin, Öl und Abgasen und die Szene war erfüllt von gebrüllten Befehlen in französischer und einem halben Dutzend anderer Sprachen.
Als sie das Kasernentor der gewaltigen Kasernenanlage von Siddi bel Abbes durchschritten hatten, erinnerte nur noch das etwas schemenhafte Bild der Moschee im Hintergrund daran, dass sie in Nordafrika waren. Im Vordergrund sprang ein in zwei Etagen abgesetzter Granitsockel mit dem eingemeißelten Signum „Légion étrangère“ ins Auge. Die Truppe musste antreten und erst einmal wieder einer Ansprache über sich ergehen lassen mit den üblichen Phrasen über die Ehre, der Legion anzugehören, über Traditionen, die Heiligkeit des Befehls, über Disziplin und Elitedenken, also über all das, was sie in den letzten zwölf Wochen bis zum Erbrechen gehört hatten.
Dann erfolgte die Zuweisung der Unterkünfte. Harry war angenehm überrascht. Er teilte einen kleinen, aber recht wohnlich eingerichteten Raum mit Ian, einem fast zwei Meter großen jungen Mann aus Irland. Beim Einrichten ihrer Spinde versuchten beide, sich etwas näherzukommen. Die anfangs holprige Unterhaltung klappte bald ganz gut. Harrys Schulenglisch reichte aus. Ians Vater war Repräsentant eines großen irischen Exportunternehmens für Irischen Whisky in Frankreich. Wohl über diese Schiene war Ian zu seinem Status gekommen. Er war ebenfalls Protegé-Praktikant. Wie Harry bald feststellte, hatten sich die anderen Neulinge ohne diesen Status mit recht kargen Sechs-Mann-Unterkünften zu begnügen.
Für den Nachmittag waren erste Algerien-Instruktionen angesetzt. Die Mannschaften mussten in der glühenden Sonne auf dem Kasernenplatz antreten und einen Hagel von Anweisungen, Befehlen und vor allem Verboten in verschiedenen Sprachen, laut, brüllend, in einem unablässigen schnellen Stakkato, der auch in der jeweiligen Heimatsprache kaum verständlich war, über sich ergehen lassen. Die Unterführer unter den Neuankömmlingen, und dazu gehörten aufgrund ihres Protegé-Status auch Ian und Harry, hatten sich in der Messe zu versammeln. Dort erhielten sie im Grunde die gleichen Instruktionen, nur etwas detaillierter und mit Dia-Bilden und einem kleinen Film ergänzt. Es wurde vor jedem Kontakt mit Einheimischen gewarnt, jeder Algerier war nach den Warnungen der Instrukteure ein potentieller Rebell, ein Sicherheitsrisiko, ein möglicher hinterhältiger Mörder. Allen Legionären war es strikt verboten, sich alleine außerhalb des Kasernengeländes aufzuhalten. In dem kleinen Film wurde eine grausige, sicher gestellte, Szene gezeigt, die in der Kasbah Algiers spielte.
Die Kasbah, die sich an den Berghängen der Hauptstadt befindet, ist ein exotisches, buntes, faszinierendes und für Fremde völlig undurchsichtiges Labyrinth. Enge Gassen, Läden aller Art, Teestuben und kleine Straßen-Garküchen dicht aneinander gedrängt mit einem Gewusel von Menschen aller Hautfarben und Herkunftsgebiete.
In dem Film wurde eine kleine Gruppe von Legionären gezeigt, die lachend und entspannt einer ebenfalls kleinen Gruppe einheimischer und überwiegend verschleierter Frauen folgte und dieser harmlose Anzüglichkeiten zurief. Urplötzlich zogen die Frauen Schnellfeuerwaffen unter ihren Schleiern hervor und mähten die Soldaten in Sekundenschnelle nieder. Anschließend zogen sie Dolche hervor und schnitten, so suggerierte es jedenfalls der Film, den noch lebenden Soldaten die Kehlen durch, stachen Augen aus und schnitten Ohren und Nasen ab. Über den Film wurde heftig diskutiert. Jedem war klar, dass die gezeigten Grausamkeiten nachgestellt waren. Aber den Neulingen wurde sehr ernst glaubhaft gemacht, dass es ähnliche entsetzliche Vorkommnisse durchaus wirklich gegeben hat und gibt.
Sehr nachdenklich ging Harry über den Kasernenhof zurück zur Unterkunft. Etwas überspitzt ausgedrückt hatten die Instrukteure den Neulingen vermittelt, in diesem Land gebe es Millionen von Einheimischen, die potentielle Rebellen, Verbrecher und Mörder seien und die den relativ wenigen Guten gegenüberstehen, nämlich den etwa 300.000 französischen Soldaten und Legionären. Harry war übermüdet, total verschwitzt und missmutig. Da kann doch etwas nicht stimmen. Was soll ich hier, ich habe damit doch absolut nichts zu tun? Woher nahmen die Franzosen die Berechtigung, ein ganzes Land, ein ganzes Volk von über zwanzig Millionen Menschen zu unterjochen, es zu beherrschen und die vielen Millionen als Menschen zweiter Klasse anzusehen, die in erster Linie dafür da sind, den Eindringlingen zu dienen. Harry hatte kein gutes Gefühl dabei, dass er sich verpflichtet hatte, den Unterdrückern dabei zu helfen.
Aber er war jung und konnte unangenehme Gefühle bald wegschieben. Was soll’s. Ich habe ein Ziel und das ist nicht die Legion. Ich bin nur für neun Monate dabei und davon habe ich schon fast die Hälfte rum.
Er hatte auch kaum Zeit, unangenehmen Gefühlen nachzuhängen. Die nächsten Tage waren vollgestopft mit Aktionismus. Es gab eine harte, komprimierte praktische und theoretische Ausbildung zur präventiven und praktischen Bekämpfung von Terroristen, wie es im offiziellen Ausbildungsplan hieß. Insbesondere das Vorgehen in Aufklärungs- und Erkundungstrupps mit spontanen Kampfaktivitäten wurde immer wieder geübt, in voller Kampfausrüstung im Gelände und im Unterrichtsraum in der Kaserne mit Planspielen und Taktikvarianten.
Nach einigen Wochen erhielten Harry und auch Ian einen Versetzungsbefehl nach Mascara. Von dort aus sollten sie als stellvertretende Gruppenführer in Erkundungstrupps eingesetzt werden. Die Kaserne von Mascara befand sich mitten in der Stadt, umgeben von einer hohen Mauer mit mehreren Wachtürmen. Irgendwie wirkte sie wie ein Fremdkörper. Es war wie eine aufgezwungene Trutzburg mit fremden Eindringlingen in einem Meer von Einheimischen. Das Kasernengelände war nicht groß, mit dem vierstöckigen Hauptgebäude, dem Kasernenhof, dem Fahnenmast, dem Wachgebäude, der Küche und den Nebengebäuden hatte es kaum größere Ausmaße als ein Fußballplatz. Das klotzige vierstöckige Gebäude in der Mitte wirkte wie eine Festung in der Festung. Mascara war keine Ausbildungskaserne, sondern eine Art Hauptquartier für kleine Kampf- und Aufklärungseinsätze.
Harry und Ian wurden im Unteroffizierslogis in einem Nebengebäude neben der Funkstation und dem Büro der Militärpolizei untergebracht. Schon am nächsten Tag wurden beide verschiedenen Erkundungstrupps als stellvertretende Gruppenführer zugeteilt. Die verschiedenen Gruppen sollten unabhängig voneinander, aber koordiniert und mit Funkkontakt untereinander ein größeres Gebiet im Dreieck von Douny Fououaila, Djebairia und Hassi-Dahou aufklären und, wie es hieß, gegebenenfalls von Rebellennestern säubern. Mit Militär-LKWs wurden die Gruppen an verschiedenen Ausgangspositionen abgesetzt. Harry hatte ein mulmiges Gefühl, als er sich mit der zwanzig Mann starken Gruppe im Gelände vorwärts bewegte. Es war still, menschenleer. Ihre schweren Militärstiefel wirbelten Sand und trockenen Staub auf. Die Sonne brannte vom tiefblauen, völlig wolkenlosen Himmel. Schon nach kurzer Zeit waren alle total verschwitzt. Die schweren Stiefel, der Kampfanzug und der Stahlhelm drückten und klebten am Körper. Der Tornister alleine wog zwanzig Kilogramm. Dazu kamen der Karabiner, die Wasserflasche, zusätzliche scharfe Munition und Handgranaten. Als stellvertretender Gruppenführer verfügte Harry zusätzlich über eine Pistole und einen Feldstecher. Am schwersten zu schleppen hatte der Funker mit seiner klobigen Ausrüstung. Immer wieder suchten der Gruppenführer und Harry den Horizont nach verdächtigen Bewegungen, Ansammlungen und getarnten Unterständen ab. Es gab nichts. Diese Welt schien menschenleer, auch ohne Tiere zu sein. Eine staubige heiße Hölle, die keinen interessierte und die keiner haben wollte.
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