Während ich vor dem Laden die Ware auspackte, sah ich plötzlich Jewad auf seinem Motorrad. Hinter ihm saß jemand. Ich ließ alles stehen und liegen und rannte hinter ihm her. Laut rief ich: „Jewad, Jewad, bleib stehen!“
Er reagierte sofort und stoppte das Motorrad.
„Hallo Jewad, wo steckst du nur, ich habe dich tagelang nicht gesehen. Du hattest mir doch versprochen, mir ein Buch zu geben.“
Wie immer lächelte er. „Erst einmal einen guten Tag, wie geht es dir, Hussein? Darf ich dir einen Freund vorstellen. Das ist Abe Kaweh, der Bruder von Kak Foad.“
Ich antwortete mit einem freundlichen Gruß und sagte: „Ah ja, ich kenne Herrn Soltani. Ich helfe übrigens heute meinem Vater.“
„Bist du allein im Laden?“
„Nein, aber später geht mein Vater zum Gebet in die Moschee, dann werde ich hier allein sein.“
Jewad nickte: „Gut, wir müssen jetzt erst einmal ins Stadtzentrum fahren und kommen nachher zu dir, während dein Vater in der Moschee ist. Es gibt sehr viele Neuigkeiten, die ich dir erzählen will.“
Schnell ging ich in den Laden zurück und tat so, als hätte ich unbeobachtet gearbeitet. Mein Vater sagte nichts, doch sein Blick fragte, mit wem ich die wenigen Minuten gesprochen hatte. Na ja, Hauptsache, er war nicht böse mit mir. Ich gab mein Bestes. Ich hoffte, nach der Arbeit ein kleines Taschengeld zu bekommen, aber ich wusste, wie geizig mein Vater war. Im Grunde war das auch egal. Vielmehr war ich gespannt auf die Neuigkeiten, von denen Jewad gesprochen hatte. Bestimmt hatte es etwas mit Kak Foad zu tun. Ob er Kak Kaweh, der auf dem Motorrad mitgefahren war, mit in den Laden bringen würde? Abe Kaweh war Lehrer, ich hatte ihn aber nie bei den Gruppen im Kaffeehaus oder in Kak Jamschids Bücherei gesehen. Wenn ich mir alles zusammenreimte, mussten die Neuigkeiten mit Kak Foad zu tun haben. Seit dem Stromausfall und dem Streit mit dem Bürgermeister hatte man Kak Foad nicht mehr in unserer Stadt gesehen. Die Bevölkerung hatte viele Theorien, wo Kak Foad sein könnte. Die einen dachten, er sei als Leiter der Stromgesellschaft in eine andere Stadt versetzt worden, die anderen waren der Meinung, dass er von der Savak festgenommen worden sei. Hoffentlich war nichts Schlimmes mit Kak Foad passiert. Die Menschen redeten und quatschten und am Ende stimmte es nicht, wie so oft. Ich musste abwarten, was Abe Kaweh und Jewad mir sagen würden. Mein Vater hatte vor Kurzem von einem sehr wichtigen Thema für unsere Stadt gesprochen, aber ich hatte nicht genau verstanden, was er damit meinte. Hoffentlich würden die zwei Stunden schnell vergehen, bis mein Vater sich auf den Weg zur Moschee machte.
Endlich war es so weit. Aus dem großen Lautsprecher hörte ich Allah und Akbar. Man rief alle Gläubigen zum Freitagsgebet. Eilig sagte mein Vater: „Du passt hier im Laden auf, bis ich zurück bin. Wenn Kunden kommen und größere Bestellungen haben, schreibst du das alles unter dem Tagesdatum in das Buch hinter der Kasse. Das Buch ist sehr wichtig – auch für die Finanzbehörde. Schreibe alle Bestellungen auf und die kleineren Aufträge kannst du den Kunden gegen Barzahlung geben. Wenn jemand kommt, der hier anschreiben lässt, sagst du höflich: ‚Mein Vater ist bald zurück.‘ Verärgere diese Kunden nicht, denn sie haben oft kein Geld und zahlen erst nach einer Woche. Man muss auch diesen Menschen helfen, denn sie leben in einer anderen Welt. Die sind das so gewohnt. Manchmal ist es für sie auch eine gewisse Wertschätzung, wenn man sie anschreiben lässt.
„Ja, Vater, ich habe alles verstanden und passe auf den Laden auf.“
Mein Vater merkte, dass ich, statt ihn anzusehen, dauernd zum Ladenfenster herausschaute. „Hussein, wo bist du mit deinen Gedanken? Was schaust du ständig auf die Straße, wartest du auf jemanden?“
„Nein, nein, mein lieber Vater, gehe nun endlich zu deinem Freitagsgebet. Du kannst dich auf mich verlassen.“
Im selben Moment, als mein Vater den Laden verließ, kamen Jewad und Abe Kaweh mit dem Motorrad um die Ecke gefahren. Glück gehabt, dachte ich.
Jewad fing gleich an zu erzählen: „Wir waren gerade bei Freunden. Mit ihrer Hilfe und mit der ihrer Familien werden wir für die Gefangenen demonstrieren, damit alle Inhaftierten ihre Ziele erreichen und ihren Hungerstreik beenden. Ihr Leben und ihre Gesundheit sind in Gefahr. Manche sind schon vollkommen abgemagert. Das können wir nicht zulassen, sonst sterben sie alle. Besonders auch Kak Foad. Er ist Gefangener im Gefängnis in Sene und befindet sich im Hungerstreik.“
Wie ein Blitz schoss diese Nachricht durch mein Gehirn. „Warte mal, Jewad“, sagte ich. „Was sagst du da? Kak Foad ist im Gefängnis in Sene? Niemand hat das in unserer Stadt gewusst. Es gab verschiedene Geschichten, die erzählt wurden, aber das, was du sagst, ist wohl die Wahrheit.“
Jewad und Abe Kaweh lächelten mir zu und Jewad sagte: „Ja, so ist es. Er war vier Jahre in Teheran und wird seitdem in Sene gefangen gehalten. Aber wir wissen das auch erst seit zwei Wochen und seitdem bin ich sehr mit dieser Sache beschäftigt. Ich war nun schon einige Male in Sene.“
„Und wir dachten, er sei wegen des Streits mit dem Bürgermeister nach dem Stromausfall versetzt worden.“
Abe Kaweh ergriff das Wort: „Nein, nein, deswegen wurde er nicht festgenommen. Er war zu der Zeit Lehrer an der Technischen Universität in Sene. Dort nahm ihn die Savak fest.“
„Aber er war doch Leiter der Stromgesellschaft und Ingenieur bei uns in Marivan!?“ Ich verstand das Ganze nicht.
„Ja“, sagten beide gleichzeitig und Abe Kaweh sprach weiter: „Nach seinem Studium und Wehrdienst arbeitete er als Lehrer an der Universität und unterrichtete.“
„Aber warum ist er trotz des langen Studiums Lehrer geworden? Ein Ingenieur zu sein, ist doch viel besser als ein einfacher Lehrer.“
Abe Kaweh lachte. „Du hast recht, Hussein, wir wissen es auch nicht. Seine gesamte Familie fand es ungewöhnlich, aber es war nun mal seine Entscheidung, Lehrer zu werden und zu sein.“
Die beiden wollten wieder aufbrechen, aber ich hielt sie zurück: „Wartet! Ich will euch noch etwas fragen. Ich möchte gern morgen mit euch kommen, ich helfe euch und komme mit nach Sene.“
Jewad protestierte: „Nein, nein, morgen geht das nicht; vielleicht ein anderes Mal. Morgen ist Samstag und du musst zur Schule gehen. Spätestens übermorgen sind wir wieder hier und ich erzähle dir dann alles.“
„In Ordnung, Jewad, also wo treffen wir uns übermorgen?“ Ich wollte ihn nicht ohne Verabredung gehen lassen.
„Nun ja, komm ins Kaffeehaus, dort werden wir uns sehen.“
Kurz darauf waren die beiden mit dem Motorrad außer Sichtweite. Wenige Minuten später kam auch schon mein Vater aus der Moschee zurück und wollte wissen, ob Kunden da gewesen seien.
„Nein, Vater, in dieser Zeit ist niemand gekommen“, antwortete ich etwas verlegen. „Vielleicht waren deine Kunden ja auch alle in der Moschee.“
Er gab mir zwei Toman und sagte: „Du kannst jetzt nach Hause gehen. Ich brauche dich hier nicht mehr.“
Mein Vater war heute sehr großzügig, aber mit zwei Toman konnte man nicht die Welt erobern. Ich schlenderte nach Hause und wusste, dass der Betrag nicht ausreichte, um nach Sene fahren. Ach, dachte ich, ich kaufe mir ein Eis bei Isse Genat, der kleinen Konditorei mit dem leckersten Eis in der ganzen Stadt. Ich zahlte fünfzig Rial und würde den Rest sparen. Es war das Beste, das Geld zu verstecken, damit es mein Bruder Nasser mir nicht wegnahm.
Mein Eis schmeckte wunderbar, aber ich machte mir Gedanken wegen des Hungerstreiks. Es war mir unvorstellbar, dass man mehrere Wochen nichts aß und trank. Kak Foads makelloses Gesicht kam mir in den Sinn. Ich erinnerte mich an die Zeit. als er im Nachbarhaus von Rahimi gewohnt hatte. Meine Mutter sprach oft mit unserer Nachbarin über Foad. Sie erzählten nur Gutes über ihn. Er sei immer höflich und zuvorkommend, hieß es. Manche Mütter aus armen Familien waren neidisch auf Foads Mutter. Dade Fathe, die gegenüber von uns wohnte, sagte oft: „Nicht nur reiche Familien können ihre Kinder gut erziehen. Aber wie sollten wir als arme Familie ein Studium bezahlen? Wir sind nicht so reich wie die Soltani-Familie. Unser Kind muss arbeiten und Geld verdienen.“ Sie war aber auch der Meinung, dass Intelligenz nichts mir Arm oder Reich zu tun hatte. Es gab Kinder von stinkreichen Familien, die nicht einmal einen Schulabschluss hatten und von Haus aus dumm oder faul waren. Kak Foad war anders, auch wenn er aus einer reichen Familie kam. Man sah es ihm nicht an und er benahm sich wie einer von uns. Aber wenn er doch gelernter Ingenieur war, warum war er dann Lehrer geworden? Warum wurden alle guten Menschen in unserer Stadt Lehrer? Hatte das etwas mit der Hintergrundorganisation zu tun? Kak Foad mischte sich unter die Studenten und Schüler, redete mit ihnen und baute seine Organisation auf, falls es diese überhaupt gab. Im Grunde war es nur ein Gerücht. Man hörte, er sei politisch aktiv, aber niemand wusste Genaueres. Ich wollte so gern mehr erfahren und nach Sene fahren. Aber wie sollte das gehen ohne das nötige Geld?
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