Die Motive, die Kak Jamschid malte, handelten meist von dem normalen Leben in unserer Stadt. Einmal betrachtete ich auf dem Basar ein Bild von ihm. Das Gemälde zeigte einen alten Mann mit einem Bart und Schweißperlen im Gesicht. Er trug eine schwere Last auf seinem Rücken. Nebenan hing ein Bild von Hussein, dem „Schiet“. „Schiet“ hieß „verrückt“. Vielleicht war er tatsächlich etwas verrückt gewesen, aber in unserer Stadt hatte er sich großer Beliebtheit erfreut, weil er keiner Menschenseele etwas zuleide tat. In unserer Stadt erzählte man sich, dass er einst im Winter auf den zugefrorenen Zarivar-See gegangen sei, um über das Wasser zu laufen. Das Eis brach ein und mit ihm Schiet. Er war ein kräftiger Mann, obwohl er arm war. In dem eiskalten Wasser unseres Sees erfroren ihm seine Hände und Füße, die dann später bei dem Arzt amputiert werden mussten. Der beliebte Verrückte konnte nur wenige Worte sprechen. Worte wie „Hunger“ und „Durst“ beispielsweise. Und die Menschen gaben ihm jeden Tag ein Almosen, weil er zwar ärmlich gekleidet war, aber niemanden belästigte. Manchmal schlief er einfach am Straßenrand und irgendjemand brachte ihn am Abend zu seinem verfallenen Häuschen, das weder mit Strom noch mit Wasser ausgestattet war. Es gab dort auch keine Toilette. Das Bild zeigte den armen Schiet schlafend auf dem Basar. Anstelle eines Kissens lag eine harte Blechdose unter seinem Kopf. Ein sehr trauriges Bild, dachte ich, als ein alter Mann neben mir zu mir sagte: „Ja, ja, jedes seiner Bilder erzählt uns eine traurige Geschichte über Menschen in unserer Stadt.“ Der alte Mann lobte den Maler und berichtete, dass dieser wegen seiner Bilder oft im Gefängnis landete. Die Motive seien gegen die Gesinnung des Regimes. Wie viele andere stand er unter ständiger Beobachtung der Savak-Leute.
Ich war vor der Stadtbücherei eingetroffen und wollte irgendwie zu der Organisation Kontakt aufnehmen. Als ich die Bücherei betrat, sah ich Herrn Kak Jamschid. Er sprach gerade in einer Ecke der Bücherei mit Jewad. Ich ging zu ihnen und sprach Jewad an: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe lange nichts von dir gehört.“
Er wollte mir antworten, aber Kak Jamschid sagte: „Seid leise, die anderen wollen in Ruhe lesen.“
Jewad flüsterte: „Hier können wir nicht reden, aber ich habe dir viel zu erzählen.“
Wir verabschiedeten uns von Kak Jamschid und gingen in Richtung Zarivar-See.
Jewad erklärte: „Ich hatte in den letzten Wochen sehr viel zu tun und war ständig unterwegs, mal in Bilow, mal in Sanandaj, mal in Kermanschah.“
Ich war neugierig und fragte ihn: „Was hast du im dem Dorf Bilow gemacht?“
„Ich erkläre es dir, wenn du Geduld hast.“
„Ja, dann sag es mir doch. Im Übrigen bin ich nicht ungeduldig.“
„Du weißt doch noch von der Weißen Revolution. Das Wichtigste war die Reform der Grundbesitzer in der Landwirtschaft.“ Endlich kam Jewad auf den Punkt. „Man entzog der Aghwat Land und gab es in kleinen Ländereien an die Bauern ab.“
„Ja“, sagte ich, „davon habe ich gelesen.“
„Das hat den Bauern Vorteile gebracht. Hier bei uns in Kurdistan wurde diese Reform nicht umgesetzt.“
„Aber warum? Wer hat das entschieden?“
Jawed sagte: „Das waren das Schahregime und seine Gendarmen.“
„Warum machen die bei uns diesem Unterschied?“, wollte ich wissen.
„Das ist eben die Ungerechtigkeit. Die Savak und die Aghwat nehmen den Bauern seit Jahrhunderten alle guten Felder ab. Sie lassen sie auf ihren Namen umschreiben und lassen die Bauern nicht weiter darauf arbeiten. Sie nehmen somit den Bauern die Ernte weg. Viele unserer Freunde sind Lehrer in den anliegenden Dörfern und haben mit den Bauern gesprochen. Um es kurz zu machen: Die Bauern von Bilow und Darsiran haben sich versammelt und wir haben gemeinsam mit ihnen einen Plan ausgearbeitet, um gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. Die Bauern haben dort ihre Ernten eingeholt und wir waren ihnen wochenlang dabei behilflich. Die Gendarmen jedoch sind auf der Seite der Aghwat und sie haben viele Bauern ins Gefängnis gebracht. Aus Solidarität sind dann andere Bauern immer wieder auf die Felder gegangen, bis auch sie festgenommen wurden. Dann kamen die Bäuerinnen und die Kinder auf die Felder. Das war eine Revolution unserer Bauern hier in der Gegend. Aber wir konnten nicht zulassen, dass sie alle im Gefängnis landeten. Wir entschieden, dass es so nicht weitergehen konnte, denn sonst hätten die Bauern ihren Kampf gegen diese Ungerechtigkeit aufgegeben. Deshalb war ich auch in Sanandaj und Kermanschah. Dort schalteten wir einen guten Anwalt ein, der eine Klage eingereicht hat. Der Anwalt ist ein guter Freund unserer dortigen Freunde. Und er denkt genauso wie wir. Also, lieber Hussein, deswegen war ich die ganze Zeit unterwegs. Ich kann dir aber auch die gute Nachricht verkünden, nämlich dass ich heute erfahren habe, dass wir gewonnen haben!“
Ich staunte, ließ Jewad aber ausreden.
„Woher ich das weiß, ist im Moment noch ein Geheimnis. Ich muss sagen, die Bauern haben sehr mutig für ihre Sache gekämpft und der Anwalt hat sie bestens vertreten. Einige Bauern und eine Bäuerin sind zum Ministerium in Teheran geschickt worden, haben dort mit den Sachbearbeitern vom Landwirtschaftsministerium gesprochen und kommen heute aus Teheran zurück. Ich bin auf ihre Ergebnisse sehr gespannt und will morgen wissen, was sie alles im Detail erreicht haben, damit auch in unserem Kurdistan endlich Gerechtigkeit einkehrt. Wenn du willst, komm doch morgen mit mir nach Darsiran zu Dade Tele. Sie ist eine mutige Bäuerin. Die ganze Zeit hat sie gesagt: ‚Auch wenn mein Mann nicht mitmacht, ziehe ich es allein durch. Ich lasse mich nicht mehr von den Gendarmen und der Aghwat einschüchtern.‘ Die Bäuerin war mutiger als ihr Mann, dem man das aber verzeihen muss, denn er war zuvor schon im Gefängnis und wurde gefoltert. Die Bäuerin sagte, dass es ihr Recht sei, so vorzugehen. Und morgen wird sie bestimmt erzählen, wie es im Ministerium in Teheran war.“
Am nächsten Tag holte mich Jewad an der Ecke unserer kleinen Straße zur Hauptstraße hin ab. Meinen Eltern hatte ich noch nicht erzählt, was ich vorhatte, denn ich war mir nicht sicher, ob sie mir das erlauben würden.
Ah, da kam Jewad, allerdings auf einem Motorrad. Er stieg ab und ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen: „Woher hast du das Motorrad? Seit wann hast du es?“
„Ach Hussein, ich habe es erst seit kurzer Zeit, weil es nicht mehr anders ging. Du weißt doch, die ewigen Busfahrten, das Warten an der Bushaltestelle, die schlechten Fahrplänen und die Unpünktlichkeit der Busse – all das hat dazu geführt, dass ich oft nicht wegkam. Ich hatte Probleme, während der Bauernkampfbewegung, meine jeweiligen Ziele zu erreichen. In den kleinen Dörfern ist es noch schlimmer; da gibt es überhaupt keine Kleinbusse und ich musste oft mit Freunden fahren. Als ich das letzte Mal in Sanandaj war, habe ich mir von meinen Ersparnissen und mit der Hilfe meiner Freunde dieses Motorrad gekauft.“
„Aber“, warf ich ein, „dann bist du doch eine Zielscheibe für die Savak-Leute, wenn sie dich sehen.“
„Mach dir keine Sorgen“, versuchte Jewad mich zu beruhigen. „Ich passe schon auf mich auf. Aber nun setz dich hinter mich, wir müssen los.“
Das Dorf Darsiran war nicht sehr weit entfernt. Es lag kurz hinter der Stadtgrenze. Wir erreichten das Dorf und fuhren direkt zu der Adresse, wo wir dachten, diese Bäuerin anzutreffen. Auf dem Hof arbeitete eine Frau vor dem Kuhstall. Sie stellte Tapalle für den Winter her. Das war ist eine Art Mischung aus Kuhscheiße und Baumrinde, die zunächst zusammengemengt, in der Sonne getrocknet und dann im Winter als Heizmaterial genutzt wurden. Eine harte Arbeit. Das Heizmaterial wurde in der Scheune bis zum Winter gelagert, um es im Haus zum Heizen zu verwenden, wenn draußen Eiseskälte herrschte und der Schnee die Landschaft weiß einhüllte.
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