Jewad tippte mir auf die Schulter und holte mich aus meinen Gedanken.
Dann hörte ich wieder Dade Tele. Sie schwelgte noch immer in ihren Erzählungen. „Ich habe dem Schah in seinem Büro gesagt, er soll nun unseren Reis von Marivan kaufen, der zwar etwas kleiner ist, aber viel besser schmeckt.“
Oh, mein Gott, was erzählte sie da?
Jewad bemerkte, dass ich all den Unsinn nicht mehr aushielt. Er stand auf und sagte laut: „Wir sind spät in der Zeit. Leider müssen wir uns nun verabschieden.“
„Ja, wir müssen gehen“, fügte ich hinzu.
Dade Tele stand auf und fragte: „Warum geht ihr schon? Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede.“
„Tut mir leid“, antwortete Jewad mit einem Ton des Bedauerns, „aber wir müssen leider aufbrechen. Vielen Dank für deine Erzählungen. Es war sehr gut, dass du so viel Mut bewiesen hast.“
Unterwegs stieß Jewad mich an. „Hussein, du warst ja fast eingeschlafen.“
„Ach, was sollte das Ganze. So viel Unsinn habe ich noch nie auf einmal gehört.“
„Es sind arme Bauern“, erklärte Jewad. „Die haben ihre Träume. Sie wissen es nicht besser. Sie träumen wie viele hier von einem besseren Leben. Ob arm oder reich, im Grunde hat jeder Mensch Träume. Ob du nun Analphabet bist oder studiert hast. Das gibt es keinen Unterschied. Die Bäuerin war doch noch nie in ihrem Leben in einer anderen Stadt. Dass sie nun in Teheran, der größten Stadt unseres Landes, war, ist für sie ein unglaubliches Ereignis. All das, was sie berichtet hat, sind ihre Träume. Sie hat sich ihre Geschichte zusammengebastelt, und alles, was sie über den Palast erzählt hat, weiß sie aus dem Radio. In ihrer Fantasie hat sie tatsächlich Farah Diba getroffen.“
„Aber sie ist doch verrückt. Wenn ich schon sehe, dass sie einen Apfel mit der Gabel aufspießt.“ Ich schüttelte mich. „Meine Träume sehen anders aus, Jewad. Die Bauern glauben wohl ihre Geschichte.“
Ich weiß, Hussein, aber das sind auch einfache Menschen, und wir müssen ihnen helfen.“
Ich zweifelte. „Denkt Dade Tele, wir sind blöde und glauben ihr diese Geschichte?“
„Ich weiß was du meinst, aber die sind halt so.“
„Ach Jewad, du kannst denen weiterhelfen, aber du wirst so nichts erreichen. Wie willst du mit denen gegen die Savak kämpfen und gegen dieses diktatorische Regime?“
„Weißt du, Hussein, diese Menschen müssen durch unsere Hilfe erst einmal selbst sehen, wo sie stehen. Sie wissen zwar, was Recht und Unrecht ist, aber sie haben nicht gelernt, sich zu wehren. Deswegen werden wir sie unterstützen und ihnen Mut machen. Die Bauern sind nicht blöde. Sie wissen schon, um was es geht, weil sie von Natur aus vorsichtig sind. Und wenn sie merken, dass sie gemeinsam stark sind, werden sie auch etwas verändern können.“
Ich überlegte. „Aber die Bauern blicken nicht über ihr Feld hinaus, sie haben doch nur darin Erfahrung, wie sie ihre Kühe auf dem Feld zu füttern oder ihre Ernte mit harter Arbeit einzuholen haben. Etwas anderes wollen sie gar nicht erkennen. Sie wissen nichts von Gerechtigkeit und Freiheit. Für was brauchen die Bauern Freiheit?“
„Oh, Hussein, du bist noch jung und unerfahren. Natürlich braucht jeder Mensch seine Freiheit, um über sein Leben zu bestimmen, auch die Bauern Kurdistans. Du hast heute erstmals Dade Tele gehört und gesehen, aber deine Meinung über sie und ihre Leute ist falsch.“
„Ich weiß, Jewad, aber das, was ich heute erlebt habe, zeigt mir nicht, wie sie wichtige Dinge für ein besseres Leben voranbringen können. Sie haben doch kein geistiges Wissen, waren nie auf der Schule.“
„Doch, doch“, sagte Jewad, „und gerade deshalb haben sie die Macht der Veränderung, nicht wir. Man muss das enthusiastisch sehen. Die Bauern arbeiten Tag und Nacht auf den Feldern und werden von der Aghwat ausgenommen. Aber sie sind in der Mehrzahl. Für diese Menschen kann man ein besseres Leben schaffen. Neben der Landwirtschaft haben wir noch keine Industrie, weil die Machthaber es für Kurdistan nicht erlauben. Das ist alles gewollt und gesteuert. Aber, Hussein, denk nicht so negativ. Es gibt genug Beweise in der Welt, wie Revolutionen die Welt verändert haben. Das nächste Mal bringe ich dir ein Buch über Mao und die Revolution in China mit. Wenn du das gelesen hast, wirst du sehen, dass die Bauern ihre Macht haben werden.“
Einige Tage später, nachdem wir Dade Tele im Dorf besucht hatten, ging ich ins Kaffeehaus. Die anderen Besucher lasen Zeitung. Irgendetwas kam mir merkwürdig vor. Ja, hier waren viel mehr Menschen als an sonstigen Tagen. Lehrer, Studenten … aber keine Spur von Savak-Leuten. Etwas muss geschehen sein, dachte ich. Sonst wurde hier doch nicht so laut gesprochen. Etwas Wichtiges musste passiert sein. Langsam ging ich von Tisch zu Tisch, wollte wissen, was es Neues in der Zeitung gab. Kein Mensch beachtete mich, bis ich Jewad sah, der sich, von vielen Leuten umkreist, über eine Zeitung beugte.
Ich fragte: „Jewad, Jewad, was ist passiert? Was steht da geschrieben?“
Er lachte und drückte mir eine Zeitung in die Hand. „Da, lies selbst. Es ist nur Gutes, Gutes. Wenn du das gelesen hast, wirst du verstehen, dass die Bauern auch bei uns ihre Macht haben werden.“
Ich ging mit der Zeitung in eine freie Ecke des Kaffeehauses und begann zu lesen:
Anti-Schah-Demonstrationen in Tabriz und Schiraz:
In der Ark-Moschee von Teheran wurde bei der Trauerrede zu Ehren seines Sohnes, Khomeini …
In der letzten Woche schlossen die meisten Geschäfte des Teheraner Basars ihre Geschäfte und begaben sich in einen Streik …
Die Sicherheitsbeamten fanden in Teheraner Wohnviertel mehrere bewaffnete Terrorgruppen. Diese wollten Polizeistationen angreifen und Banken überfallen …
Während unseres Abendessens sagte mein Vater zu mir: „Komm morgen Vormittag in mein Geschäft.“
Ich entgegnete: „Warum soll ich kommen?“
Er war schlecht gelaunt. „Das ist egal. Wenn ich das sage, hast du zu kommen. Bevor du auf der Straße herumhängst, kannst du lieber etwas Sinnvolles tun und mir helfen. Außerdem ist morgen Freitag und du hast keine Schule.“
Meine Mutter unterbrach meinen Vater: „Warum kannst du das nicht in einem normalen Ton sagen? Weshalb bist du so schlecht gelaunt?“
„Du und deine Söhne!“, stöhnte er. „Ich brauche eben Hilfe. Ich erwarte neue Ware aus Teheran und außerdem gehe ich zum Freitagsgebet in die Moschee, wie ich das jeden Freitag tue.“
Um die schlechte Laune meines Vaters zu dämpfen, sagte ich: „Ja, ja, mein lieber Vater, ich komme morgen.“ Ich zwinkerte meiner Mutter zu, die heimlich zurücklächelte. Mein Vater setzte eine grimmige Miene auf.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück lief ich zum Geschäft meines Vaters auf dem Basar. Trotz des Sonnenscheins war es kalt. Der kühle Wind kam von Darsiran. Der Basar war voller Menschen, wie jeden Freitag, weil es der einzige freie Tag war und alle Ämter und Schulen geschlossen hatten. Die Beamten genossen die freie Zeit, um ihre Einkäufe meist für die ganze Woche zu erledigen. Es war ein Markttreiben in bunten Farben. Die Gemüsehändler schrien und präsentierten ihr frisch geerntetes Obst und Gemüse. Alte Bäuerinnen verkauften am Rande des Basars ihren selbstgemachten Joghurt und andere Köstlichkeiten wie Marmelade und selbstgebackene Kuchen. Die kleine Welt in Marivan war in vollem Gang. Das Stimmengewirr war laut und hatte seinen eigenen Charme.
Von Weitem sah ich, dass Arbeiter mit Schubkarren die Ware von dem Terminal der Busstation zum Geschäft meines Vaters brachten. Ich beeilte mich und fand meinen Vater schwitzend bei der Arbeit. Er sah mich und sagte: „Ach, bist du auch schon da! Das wird aber Zeit. Du siehst, was hier los ist.“ Er gab mir ein Messer zum Öffnen der vielen Kartons und fuhr fort: „Stelle alles ordentlich in die Regale.“
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