Am Abend versuchte mein Vater die Nachrichten im Radio zu hören, doch es kam nur ein Rauschen aus dem Lautsprecher. Scheinbar fand er nicht die richtige Frequenz. Meine Mutter hielt sich die Ohren zu, bäumte sich vor meinem Vater auf und sagte: „Was soll das? Das ist ja unerträglich. Hör auf mit dem blöden Kasten und setz dich lieber vor den Fernseher. Wenn du die Nachrichten hören willst, kannst du das auch im Fernsehen tun und musst hier nicht so einen Krach mit dem blöden Radio machen.“
Mein Vater antwortete ihr: „Ach, was sagst du da! Im Fernsehen senden sie doch nur Propagandaberichte des Regimes. Es gibt dort keine Wahrheit. Die gibt es nur bei BBC oder anderen Sendern aus dem Ausland. Das Regime stellt Parasiten-Sender auf die ausländischen Sender ein, sodass man nichts Konkretes hören kann. Daher kommen diese unerträglichen Geräusche.“
Ich setzte mich in die Nähe meines Vaters auf das Sofa, um nichts von dem zu verpassen, was der BBC berichtete. Bis mein Vater die richtige Frequenz gefunden hatte, dauerte es eine halbe Stunde. Dann hörten wir einen Bericht über die Gefängnisse in Teheran, das Gassergefängnis und viele andere Orte. Es wurde berichtet, dass dort viele Gefangene auf übelste Weise gefoltert und dass Menschenrechte missbraucht wurden. Von Sene berichtete man nichts im BBC-Radio. In diesem Moment wollte ich meinem Vater sagen, dass im Gefängnis in Sene (Sanandaj) ebenfalls gefoltert wurde und dass die Gefangenen, unter anderem Foad, dort im Hungerstreik seien. Dann hielt ich mich aber zurück und sagte mir: Hussein, halte besser deinen Mund, sonst kommen Fragen über Fragen! Mein Vater würde es schon irgendwann von anderen hören.
An meine Mutter gewandt sagte er: „Ich denke, langsam kommen die Unruhen auch in unsere Region. Nicht umsonst sieht man den Schah und seine Frau nicht im Fernsehen. Von der BBC konnte ich hören, dass bald ausländische Menschenrechtler in unser Land kommen, um die Lage zu prüfen. Und sie wollen die Gefängnisse auf die Einhaltung der Menschenrechte untersuchen.“
„Ach, die finden immer Schuldige“, meldete sich meine Mutter zu Wort. „Woher sollen sie auch wissen, dass die Savak und die Gendarmen die jungen Studenten inhaftieren und foltern! Denk an den armen Hajeje, dem man die Finger- und Fußnägel ausgerissen hat, nur weil er Analphabet ist und sich nicht verteidigen konnte. Warum braucht der Schah so viele Geheimdienste? Wenn sie Schuldige finden wollen, finden sie welche und hängen sie kurzerhand auf. Die kleinen Beamten nehmen sie als Alibi und haben keine Skrupel. Menschenleben sind dem Regime doch egal. Damit beruhigen sie die Bevölkerung und es geht alles weiter wie bisher.
Die Suppe ist die gleiche Suppe, die vorher gekocht wurde, die Teller sind die gleichen Teller, die man zuvor benutzte, man hat sie nur gewaschen.
„Nein, Mele, du hast es noch nicht ganz verstanden. Es kommen Menschenrechtler aus dem Ausland, um hier alle Ungerechtigkeiten zu prüfen. Wenn das Ausland all diese Folter in Gefängnissen feststellt, wird das Land vom Westen nicht mehr unterstützt. Das musst du verstehen. Darum geht es. Bedenke, dass der Schah nur durch die Amerikaner und Europäer stark ist, sonst hätte er selbst keine Macht. Die schreiben ihm vor, was er zu tun und zu lassen hat. Wenn er die Solidarität der Amerikaner verliert, verliert er seine Macht und sein Regime und ist nur noch ein kleines Sandkorn in der Wüste.“
„Ach, bist du denn blind?“, konterte meine Mutter. „Die machen, was sie wollen, auch für das Ausland. Denkst du, die könnten nichts von dem vertuschen, was hier in den Gefängnissen täglich passiert? Was glaubst du, warum der Schah und seine Frau dauernd im Fernsehen zu sehen sind. Man sieht von ihnen nur gute Taten, die lassen Kurzberichte filmen, zeigen sich von der besten Seite, gehen ins Kinderhospital und putzen den Kindern die Nase, nur um von der Realität abzulenken. Wenn die Menschenrechtler aus dem Ausland kommen, gibt es doch nur offizielle Termine. Sie werden alles so vorbereiten, als wäre nichts Unrechtes in unserem Land geschehen. Die sind mit allen Wassern gewaschen und verschleiern, wo sie nur können. Ich sage dir, die werden einfach Savakleute und Beamte im Gefängnis vorführen. Die sehen schließlich gut genährt aus. Die wirklichen Insassen bekommt niemand nicht zu Gesicht. Die vom Ausland machen ein paar Fotos und gehen wieder nach Hause. So wird es sein. Es ist alles nur eine Verschleierungstaktik und die Ausländer schreiben dann in ihrem Bericht, dass der Iran die humansten Gefängnisse der Welt hat.“
Ich konnte der Diskussion meiner Eltern nicht länger zuhören, doch es war die Wahrheit. Ich wollte morgen nicht verschlafen sein und ging ins Bett. Und selbst da hörte ich noch die laute Diskussion meiner Eltern, bis ich endlich einschlief.
In den frühen Morgenstunden wachte ich mit verschlafenen Augen auf. Mein Hirn hatte noch Sequenzen des Traumes in der Erinnerung, wie es oft bei Träumen war. Das Unterbewusstsein arbeitete wohl die ganze Nacht. In meinem Traum hatte ich alle unschuldigen Gefangenen, die nur wegen ihrer politischen Meinung im Gefängnis waren, befreit. Alle meine Kameraden aus meiner Klasse hatten mir geholfen, indem wir Seile, an denen kleine Sägen befestigt waren, in die Fenster der Gefangenen warfen. Wir hatten Lastwagen organisiert, die vor den Gefängnismauern warteten, bis die Gefangenen in dem Moment über die Mauern kletterten, als das Licht des Turmes sie in der Dunkelheit nicht bemerkte. Ich hatte Kak Foad befreit, jedoch hatte er fast keine Kraft mehr gehabt, um über die Mauer zu klettern. Ich war eine Leiter hochgestiegen, um ihm zu helfen – und es klappte. Wir waren davongefahren und alle hatten mir applaudiert: „Hussein, du bist ein Held!“ Das war mein wunderbarer Traum der Befreiung gewesen, leider nur ein Traum!
Am nächsten Tag war mein Kopf voller Gedanken und ich wollte nun endlich wissen, was gerade in Sene passierte. Was war aus dem Hungerstreik der Gefangenen geworden und was war mit Kak Foad?
Nach der Schule lief ich direkt ins Kaffeehaus. Hier saßen Rentner, die Backgammon spielten, und ich konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Stinklangweilig kam es mir vor. Von meinem Taschengeld bestellte ich mir eine kleine Tasse Tee und wartete ab, ob jemand Bekanntes vorbeikam. Nach einer kleinen Weile trat ein schwitzender Junge durch die Tür und ging direkt zu Abe Balkis, der den Jungen fragte: „Was ist mit dir passiert, Junge, du bist ja ganz außer Atem.“
„Nein, ja, ja“, sprudelte er heraus. „Ich bin gerannt, ich hatte Glück. Ich komme gerade von Sene zurück, vielleicht haben sie mich wegen meiner Hose in Ruhe gelassen. Ich trage doch nur ganz normale Jeans. Jedenfalls haben sie am Bus-Terminal in Sene auf den Weg nach Marivan alle festgenommen. Jeder, der kurdische Kleidung trug, wurde einfach abgeführt und mit Polizeiautos weggebracht. Ich hatte verdammt großes Glück wegen der Jeans. Na ja, ich habe gelogen und denen gesagt, ich komme nicht aus Marivan. Und sie haben mir geglaubt.“
„Aha“, lachte Abe. „Dann haben deine Klamotten deinen Arsch vor der Savak gerettet. Aber erzähl: Warum ist jemand verdächtig, der aus Marivan kommt, und wird festgenommen?“
Ich gesellte mich zu Abe Balkis und dem Jungen, um ihnen zuzuhören.
Noch aufgeregt, trank der Junge zwei Schlucke von seinem Tee, den Abe Balkis im inzwischen serviert hatte, und begann zu erzählen: „Weißt du, Abe, ich kam aus dem Haus unserer Verwandten in der Agball Straße. Plötzlich sah ich viele Jugendliche aus Marivan und Sene, die dort demonstrierten.“ Manche von ihnen kannte ich. Sie waren laut und hatten Plakate. Sie warfen Steine, als die Polizei sie angriff. Sie schlugen auch Scheiben der Bank Milli und der Bank Sepah kaputt. Ein alter Lebensmittelladen-Besitzer schimpfte: ‚Die Marivaner sind unmöglich, sie können doch in ihrer eigenen Stadt demonstrieren, statt es hier zu tun!‘ Aber der alte Mann irrte. Die auffälligen jungen Leute waren aus Sene, nicht aus unserer Stadt. Diese Demonstranten trugen kurdische Kleidung, daher lag der Verdacht nahe, dass sie alle aus Marivan waren. Sene ist doch heute schon viel moderner. Dort tragen sie eher Jeans und westlich angehauchte Kleidung, ja eben moderner.“
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