„Wir verstehen“, sagte Abe Balkis, „aber sag doch mal: Aus welchem Grund wurde denn demonstriert?“
Der Junge in den Jeans schaute auch zu mir, weil er bemerkte, dass ich ihm mit offenem Mund zuhörte. „Es ging um den Hungerstreik der Gefangenen. Der Anführer des Hungerstreiks ist Foad Soltani. Ich weiß nicht, seit wann Foad inhaftiert ist. Er war doch vor Jahren der Leiter der Energiegesellschaft in Marivan – und dann kam der Stromausfall. So reden die Leute jedenfalls. Die Familienangehörigen und Freunde versammelten sich vor dem Gefängnis und wollten ihre inhaftierten Verwandten sehen. Jedoch erteilten die Savak und die Behörden den Angehörigen keine Erlaubnis. Deswegen fand diese Demonstration statt. Die Demonstranten wollten sich so lange vor den Gerichtshof setzen, bis man ihnen die Erlaubnis erteilte, ihre Verwandten zu besuchen. Sie würden dort nicht eher weggehen.“
„Ja“, folgerte der Kaffeehausbesitzer, „man sollte zurzeit nicht nach Sene fahren. Das ist viel zu gefährlich.“
Nachdem ich all diese Neuigkeiten gehört hatte, machte ich mir Sorgen um Jewad und Foads Bruder. Ich wollte den Jungen fragen, ob er die beiden dort gesehen hatte. Aber ich blieb still und beschloss, auf morgen zu warten. Da wollten sie ja zurück sein, zumindest hatte Jewad mir das versprochen.
Am nächsten Morgen war ich auf dem Weg zur Schule so in Gedanken versunken, dass ich auf einmal vor dem Kaffeehaus stand und nicht vor der Schule. Wahrscheinlich hatte mich meine Sorge um Jewad und Abe Kaweh zu sehr beschäftigt. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: dass den beiden nichts passiert war.
Ich beschloss, gleich im Kaffeehaus zu bleiben. In der Schule gab es an diesem Tag sowieso nichts großartig Wichtiges. Für meine Abwesenheit würde ich einfach eine Ausrede erfinden. Also betrat ich das Kaffeehaus und sah einen Bekannten, von dem ich wusste, dass er nie Geld bei sich hatte. Ich hatte keine Lust, ihm seinen Tee zu bezahlen, denn das bisschen Geld, das ich mithatte, reichte gerade mal für mich. Dann ging ich doch hinein und verdrückte mich in die hinterste Ecke des Kaffeehauses. Dort saß bereits jemand, der seinen Kopf über seinen Frühstücksteller neigte und offenbar müde war. Gott sei Dank, es war Jewad! Ich begrüßte ihn: „Hallo Jewad, wann bist du zurückgekommen?“
Er hob seinen Kopf und fragte: „Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht in der Schule?“
„Ist ja gut! Ich weiß, es ist nicht in Ordnung“, gab ich zu, „aber gestern war hier ein Junge, der schreckliche Sachen von Sene erzählt hat. Es seien viele aus Marivan verhaftet worden. Ich habe mir Sorgen um dich und Abe Kaweh gemacht und wollte wissen, was wirklich passiert ist. Deswegen bin ich hier und nicht in der Schule. Ich könnte mich auch nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wann bist du zurückgekommen? Und wo steckt Abe Kaweh?“
Jewad antwortete: „Abe Kaweh ist in Teheran.“
„Oh, was, in Teheran?“
„Jetzt setz dich erst mal hin, Hussein, und lass uns etwas essen. Ich habe gestern Morgen zuletzt gegessen.“
„Nein danke“, sagte ich. „Ich habe doch schon zu Hause gefrühstückt.“ Ich setzte mich zu Jewad. „Bist du gerade von Sene gekommen?“
„Nein, ich bin mit meinem Motorrad schon seit Mitternacht zurück. Aber erzähl mir, was der Junge gestern hier berichtet hat.“
„Der erzählte von der Demonstration in Sene, dass Demonstranten die Fensterscheiben von zwei Banken eingeschlagen haben und dass Steine auf Polizeiautos geworfen wurden. Am Busterminal wurden alle Marivaner festgenommen.“
„Ja, das stimmt, aber nur zum Teil. Nicht nur am Busterminal, sondern an der gesamten Strecke zwischen Sene und Marivan waren Kontrollen mit Blockaden aufgestellt. Die haben alle Autos kontrolliert und dann haben sie drei Busreisende festgenommen. Insgesamt sind fünfunddreißig Personen festgenommen worden, unter anderem auch die Mutter von Kak Foad und seine Schwester Maleke.“
Ich war nun erst recht begierig, alles zu hören, was passiert war. „Wenn du nicht mehr so müde bist, Jewad, musst du mir alles erzählen, ja?!“
„Ich erzähle dir das gern jetzt, Hussein“, lächelte Jewad höflich. „Wie du weißt, fuhren wir gestern mit den Familien Rawschan, Tude und Soltani und anderen Freunden nach Sene. Dort vor dem Gefängnis war es gefährlich für uns. Man hätte uns nicht erlaubt, die Gefangenen im Hungerstreik zu sehen. Viele andere Familien aus Sene waren auch dorthin gekommen. Wir alle wollten zum Gerichtshof gehen und unsere Forderungen stellen. Aber auch dort wurden wir abgewiesen. Wir ließen uns aber nicht wegschicken. Alle riefen: „Wir bleiben hier aus Solidarität, lesen Sie unsere Forderungen für die Gefangenen im Hungerstreik, deren Forderungen sind auch unsere, und zwar so lange, bis Sie die Forderungen erfüllen und der Hungerstreik beendet werden kann.“ Wir alle saßen im Gerichtshof. Die Polizei umringte uns, aber das war noch harmlos. Zwei Stunden später waren die Straßen leer, die Beamten und andere Geschäftsleute machten Feierabend. Erst dann griff uns die Polizei mit Wasserwerfern an. Sie kamen mit Schlagstöcken und griffen uns an, um uns zu vertreiben. Viele mutige Jugendliche wehrten sich und warfen mit Steinen auf die Polizisten. Schließlich schlugen sie einige Fensterscheiben von zwei Banken ein. Dabei gab es Verletzte. Auch Maleke, die Schwester von Foad, wurde verletzt. Die Polizei dachte, diese Jugendlichen seien aus Marivan gekommen, dabei waren die meisten aus Sene.“ Jewad trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: „Noch interessanter ist Sadigh Kamanger. Hussein, hast du von ihm gehört?“
„Nein, wer ist er?“ Ich kannte seinen Namen nicht.
„Sadigh Kamanger“, erklärte Jewad, „ist ein bekannter Anwalt aus Sene, der uns bislang sehr geholfen und uns Ratschläge gegeben hat, wie vorzugehen ist. Er pflegt auch Kontakt mit Kak Foad. Außerdem ist er Mitglied der Menschenrechtler seitens der Justiz. Ah, was wollte ich noch sagen, ja, also Kak Sadigh Kamanger hat uns auch erklärt, wie wir unsere Forderungen für die politisch Inhaftierten formulieren sollen. Einige von uns sind nach Teheran gefahren und haben versucht, dort mit Jabhe Melle und Christian Michel, dem Vorsitzenden des Roten Kreuzes in Iran, Kontakt aufzunehmen. Diese Kontaktpersonen für Menschenrechte im Iran nehmen unsere Forderungen auf und sorgen dafür, dass die Weltmedien über uns berichten. Abe Kaweh ist nach Teheran gefahren, um diese Vermittler zu treffen. Sie werden dort unsere Forderungen mit Hilfe von Sadigh Kamanger, Abdullah Baban und Abe Soltani vortragen.“
Ich sah Jewad an und sprach: „Ich bin sehr froh, dich zu kennen, sonst würde ich all diese Neuigkeiten niemals erfahren. Denkst du wirklich, dass ihre Reise nach Teheran Erfolg haben wird?“
Jewad nickte. „Ja, natürlich. Bedenke, dass wir verloren wären, wenn wir diese klugen Köpfe nicht auf unserer Seite hätten, auf der Seite der Gerechtigkeit. Einer wie Sadigh Kamanger kennt alle Gesetze, alle Paragraphen, er weiß, was er tut. Aber wir müssen die notwendige Geduld aufbringen. Wir hoffen alle auf gute Nachrichten und warten, bis sie zurück sind. Jetzt ist es schon so, dass die Savak und Behörden bereits zittern, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Das sind aber erst die ersten Schritte. Der Kampf geht weiter in alle Richtungen. Die gestrige Demonstration hat dieses Tabu an der Wurzel gepackt und wird in die Geschichte eingehen, weil sich bisher niemand getraut hat. Ein erster Ansatz. Die Menschen werden nicht mehr so viel Angst vor der Savak und der Behörde haben müssen.“ Jewad rieb sich die Augen. „Aber ich habe viel zu tun. Ich bin nur hier, um einige Arbeiten zu erledigen; dann muss ich zurück nach Sene. Du könntest übrigens hier für mich beziehungsweise für uns einiges erledigen, bis ich aus Sene zurück bin, wenn du magst. Ich werde nämlich wieder hinfahren.“
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