„Einen Flug wohin?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich bin nicht mehr allwissend und muss auf Eingebungen achten.“
„Okay“, sagte ich. „Business oder Touristen?“
„Bist du schon mal Business Class geflogen?“, fragte Jeschua. „Bisher noch nicht.“
„Dann buche Business. Ist für uns alle ein bisschen entspannter. Wir werden noch oft genug auf schlechten Straßen fahren.“
„Gut. Mit Vergnügen. Ich brauche aber für dich einen vollen Namen, Adresse mit Geburtsdatum und allem. Hast du überhaupt einen Pass?“
Er stand auf, ging ins Haus und kam tatsächlich mit einem Pass zurück. Neugierig nahm ich ihn in die Hand. Es war ein deutscher Pass, und unter dem Passbild stand: Josua Davidsen und eine Adresse in Hannover. Geboren: zweiundzwanzigster September 1987.
„Josua ist im Grunde das gleiche wie Jeschua, aber klingt hier normaler.“
„Und wie kommst du zu dieser Adresse?“, fragte ich und goss mir noch eine Tasse Tee ein.
„Eine reguläre Adresse. Ich stehe ganz offiziell im PC des Einwohnermeldeamtes.“
„Keine Ahnung, wie du das gemacht hast.“
„Vor dreihundert Jahren war das noch nicht nötig. Aber jetzt wird hier alles registriert.“
Ich zuckte die Schultern. „Im Himmel doch auch, oder nicht? Selbst unsere Haare sollen gezählt sein.“
Jeschua lachte. „Ich sehe schon, du scheinst dich in der Bibel auszukennen. Aber das hat einen anderen Grund, warum der Himmel so gründlich ist.“
„Und welchen?“
„Das hat etwas mit der Liebe zu tun. Was man vom Einwohnermeldeamt nicht unbedingt sagen kann.“
Wir fuhren mit einem Taxi und unserem Handgepäck durch das Verkehrsgewühl von New York. Jeschua hatte mich überredet, nur Handgepäck mitzunehmen.
„Lass uns zuerst einmal hier ankommen“, sagte Jeschua. „Ich liebe den Central Park. Besonders jetzt, wenn die Blätter bunt sind.“
Er fing sofort ein Gespräch mit dem Taxifahrer an, natürlich sprach er fließend Englisch, stellte sich mit Joshua vor und erfuhr, dass der Fahrer Ken hieß. Ich fragte mich, warum Jeschua gleich so vertraulich einstieg.
Er wird seine Gründe haben, dachte ich mir und blickte aus dem Fenster.
Ich war überrascht, in dieser Riesenstadt so viel Natur zu sehen. Ein herrlicher Tag, irgendwie luftig, die Wolkenkratzer wirkten leicht wie aus Styropor. Sogar Fußgänger entdeckte ich. Ich dachte immer, in Amerika würde kaum jemand zu Fuß gehen. Unterwegs musste ich notgedrungen mit anhören, was Jeschua mit dem dunkelhäutigen Ken redete. Sie hatten gerade über den hohen Energieverbrauch der Amerikaner gesprochen, und nun fragte ihn Jeschua, was er zum Waffenkonsum meinte. Ob er es gut fände, dass jeder Amerikaner sich beliebig viele Waffen kaufen könnte.
„Klar, Josh“, sagte der Fahrer. „Du kannst dir nicht vorstellen, was für abgedrehte Kunden manchmal bei mir mitfahren, und da hab ich im Türfach eine geladene Glock 25 liegen, unter meinem Sitz eine G 27, und jetzt besorge ich mir etwas ganz Neues: eine Pistole, die wie ein Smartphone aussieht. Wenn dir jemand eine Knarre an den Kopf hält, sagst du: ‚He, lass mich nur noch kurz meine Mama anrufen‘, und peng – ist der Kerl erledigt. Ist doch genial, oder?“
Er freute sich wie über einen guten Witz. Jeschua lachte nicht.
„Wenn alle bewaffnet sind, Ken“, sagte Jeschua, „dann erhöht sich doch die Gefahr, dass du irgendwann abgeknallt wirst, bevor du in dein Taxi steigst. Vielleicht von dem Mann, dessen Bruder du mit deinem Smartphone gerade ermordet hast. Was nützen dir dann deine Waffen im Auto?“
„Mann! Ermordet! Das klingt so hässlich. Aber egal, die Waffen geben mir eben ein sicheres Gefühl.“
„Und wenn du Angst bekommst und einfach losknallst und eine Mutter oder einen Familienvater dabei umbringst?“
„Pech. Man muss eben ständig auf der Hut sein. Wir Amerikaner lieben unsere Waffen. Wir sind damit aufgewachsen, sie gehören zum Leben dazu wie Mac Donald‘s oder Stars and Stripes. Und – he! Du kannst in diesem Land nur etwas durchsetzen, wenn du der Stärkere bist.“
„Und stark sein heißt Waffen haben?“, fragte Jeschua, und ich spürte förmlich, dass der arme Kerl gerade in eine Falle tappte.
„Klar.“
„Du kommst doch irgendwo aus dem Süden, oder? Georgia vermutlich?“
„Stimmt.“ Der Mann grinste.
„Und wie war das noch mit Martin Luther King? Wie viele Waffen hatte er gehabt, als er die Rassengesetze veränderte?“
„Keine Ahnung.“
„Er trug keine bei sich. Er trug unter seinem Hemd Gottvertrauen. Seine Waffe war Gewaltlosigkeit. Und er hat etwas bewirkt. Schien am stärkeren Hebel zu sitzen. Komisch, oder?“
„Na ja“, meinte Ken. „Sie haben ihn aber abgeknallt.“
„Aber bis heute redet man von ihm. Oder denk an Jesus. Auch jemand ohne Waffen, und an jeder Ecke gibt es hier eine Kirche von ihm.“
Ken fuhr schweigend weiter. Schließlich sagte er: „Okay, Josh, eins zu null für dich, aber ist es nicht besser, wenn man den Leuten beibringt, wie man mit Waffen umgeht, als immer alles zu verbieten?“
„Hört sich gut an. Aber manche Dinge kriegt man nicht anders in den Griff. Probier es doch mal aus, Ken. Eine Woche im Taxi ohne Waffen.“
Ich sah, wie Ken das Gesicht verzog, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte.
„Na gut“, meinte Jeschua, „eine Woche ist zu lang für dich. Ich gebe dir fünfhundert Dollar, wenn du es einen Tag lang schaffst, ohne eine Waffe herumzufahren.“
„Fünfhundert Dollar? Wirklich?“
„Ich bin noch ein paar Tage hier. Sagen wir, wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit am Flughafen.“
Ken lachte: „Bist du verrückt? Woher willst du wissen, ob ich das eingehalten habe?“
„Glaub mir“, sagte Jeschua. „Ich weiß es einfach.“
Ken sagte eine Weile nichts, fuhr schweigend weiter, überholte einen uralten Ford. Schließlich hielt er an und meinte: „Wir sind da. Central Park West, the Lake. Wenn ihr rechts reingeht, stoßt ihr automatisch auf den Lake. Macht achtzehn Dollar. Und Josh – ich probier‘s. Morgen um die gleiche Zeit am Flughafenausgang bei den Taxis, außer, wenn ich vorher abgeknallt werde.“ Er lachte. Jeschua lachte nicht.
„Ich werde da sein, Ken. Natürlich bezieht sich das Waffenverbot auch auf Messer, Pfeffersprays, Baseballschläger und Elektroschocker.“
Wir standen schon draußen. Ken beugte sich aus dem Fenster und rief Jeschua hinterher: „Und wer sagt meiner Witwe Bescheid?“
„Das mach ich schon“, sagte Jeschua und winkte ihm noch einmal zu.
Wir gingen weiter und näherten uns dem Park.
„Komische Wette“, meinte ich. „Und mit welchen wichtigen Leuten wirst du heute sprechen?“
„Das erste wichtige Gespräch habe ich gerade geführt“, sagte Jeschua.
„Was? Mit einem Taxifahrer?“
„Für Gott ist jeder Mensch wichtig. Während ich hier bin, kommt es darauf an, den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Warten wir‘s ab.“
Wir betraten eine andere Welt. Einfach faszinierend, mitten in dieser geschäftigen Stadt einen riesigen Park zu haben. Leute waren unterwegs, einige saßen auf einer Bank und aßen etwas, zwei Jogger sprinteten an uns vorbei, weiter hinten standen ein paar Jugendliche zusammen, vielleicht, um einen Straßenkünstler zu bewundern.
Ich merkte, dass ich müde wurde, die Zeitverschiebung steckte noch in meinen Knochen. Als der See auftauchte, steuerte ich auf eine Bank zu.
„Müde?“, fragte Jeschua.
„Ja. Zuhause wäre es jetzt abends. Wirst du eigentlich nie müde?“
Jeschua setzte sich zu mir und sagte: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.“
Es hörte sich an wie ein Zitat. Wahrscheinlich aus der Bibel.
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