„Damit muss ich leben.“
Unsere Kirche ist nicht so groß wie die Marktkirche, aber das schien ihn nicht zu stören. Ich stellte ihn als einen Freund aus Israel vor, was in gewisser Weise ja auch stimmte.
Er verfolgte interessiert den Gottesdienst. Wir singen eine Mischung von neuen und alten Liedern und haben eine Band vorne. In diesem Zusammenhang klang es etwas seltsam, als Jeschua mit uns das Lied sang: Mein Jesus, mein Retter.
Bei uns ist es üblich, dass Gäste ein Grußwort sagen, wenn sie das wollen. Ich hatte leider zu spät daran gedacht, dass Friedhelm an diesem Sonntag die Ansagen machte, der dazu neigte, Gäste nach vorne zu bitten.
Friedhelm fragte doch tatsächlich, ob unser Gast aus Israel nicht ein paar Grüße loswerden wollte und forderte ihn geradezu auf, ans Mikro zu treten.
Jeschua wollte nicht unhöflich sein und marschierte durch den Mittelgang nach vorne. Ich befürchtete Schreckliches.
Jemand, der mit dem Universum verbunden ist, weiß doch, was alles bei uns gelaufen ist, dass wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten, dass einige bis heute im Clinch miteinander waren und so weiter. Im Grunde die üblichen Machtspiele unter dem Deckmantel frommer Worte. Alles keine Dinge, auf die man als Kirchenmitglied stolz sein kann.
Er ging langsam nach vorne, und ich merkte, dass einige Damen ihn interessiert betrachteten. Da erst ging mir auf, dass er wahrscheinlich als Mann eine starke Ausstrahlung auf Frauen ausübte.
Jetzt ist auch alles egal, dachte ich, es kommt, wie es kommt.
Er bedankte sich ganz höflich und sagte, dass er den Eindruck habe, er sei hier willkommen und erzählte von Israel, und dann begann er mit ein paar Sätzen zu erklären, wer Gott ist, dass er die reine Liebe und an allem interessiert sei, was uns bewegt.
„Gott ist nicht der Spielverderber, für den viele ihn halten. Auch wenn er einem hart und gerecht vorkommt, denken Sie daran, es fließt alles aus seiner Liebe. Und er hat einen großen Respekt vor Ihrer Freiheit und lässt viele unmögliche Entwicklungen in dieser Welt zu. Sie können gerne nach dem Gottesdienst zu mir kommen, wenn Sie mal jemanden brauchen, bei dem sie sich aussprechen wollen, ich reise ja wieder ab.“
Dann setzte er sich, aber ich spürte schon, dass die Leute nachdenklich vor sich hinblickten. Es war nicht so sehr der Inhalt, der mich und wahrscheinlich die anderen ebenfalls beeindruckt hatte, das war ja nichts Neues, aber wie er es gesagt hatte …
Während er redete, hatte ich plötzlich das Gefühl, so wie gestern Abend, dass ich ihm alles erzählen könnte, auch die merkwürdigsten Sachen.
Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sich nach dem Gottesdienst eine riesige Schlange von Leuten bildete, die alle mit ihm reden wollten. Das Mittagessen konnten wir knicken.
Ansgar fuhr mit dem Finger über die Platte seines Tischchens, während er überlegte. Eine feine Spur blieb auf der Staubschicht zurück. Er wischte mit seinem Ärmel darüber und blinzelte nach draußen in die Sonne. Es herrschte eine angenehme Herbststimmung: Ein blauer Himmel breitete sich über der Siedlung aus. Die vorbeifahrenden Autos glänzten unter dem Licht eines milden Vormittags. Frida, seine Enkelin, war in der Schule und würde erst gegen halb zwei zurückkommen. Er saß wieder in seinem Sessel, ein Glas Wasser neben sich, und beobachtete das Haus. Heute hatte er herausgefunden, dass es bisher vier blonde Mädchenpaare gab, denn morgens, als der schwarze Volvo vor dem Haus hielt, stiegen zwei neue Mädchen in den Wagen.
Er hatte sich gestern Nachmittag, bevor Frida kam, eine Kamera mit starkem Zoom gekauft und sich einen Ordner zugelegt, in dem er die Bilder und andere Beobachtungen aufbewahren wollte. Durch die digitale Technik konnte er die Bilder gleich ausdrucken und abheften. Er war froh, dass er den Umgang mit dem PC und dem Internet auf seine alten Tage noch gelernt hatte. So konnte er auch mit ein paar Freunden E-Mails austauschen.
„Es ist unglaublich“, murmelte er. Von Weitem hätte man gedacht, dass immer dieselben Mädchen in das Auto stiegen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es verschiedene Mädchenpaare waren. Aber wo kamen sie her, oder wie kamen sie unbemerkt in das Haus? Denn die Mittagsmädchen, die um halb eins gebracht wurden, waren nicht dieselben wie die Morgenmädchen. Das hatte er auch herausgefunden. Er fand es auch merkwürdig, dass die Mädchen schnell im Haus verschwanden und nicht einmal zum Spielen herauskamen. Aber andererseits war es verständlich, denn ihre falsche Identität wäre aufgefallen, wenn sie mit anderen Kindern gespielt hätten. Die Schaukel und das Klettergerüst standen umsonst im Vorgarten.
Vielleicht sind die Spielgeräte nur Attrappen aus Leichtmetall, dachte Ansgar.
„Ich muss irgendwann einen Blick in dieses Haus werfen“, sagte er sich und überlegte, wie er das anstellen könnte. Er brauchte irgendeinen Vorwand, um zu klingeln.
Kurz entschlossen stand er auf, zog seine Schuhe an, verließ seine Wohnung und kaufte im Supermarkt nebenan einen Ball. Er verschmierte etwas Dreck auf der Oberfläche, wischte mit einem Lappen leicht darüber, klemmte sich den Ball unter den Arm, griff nach seinem Stock und ging zu dem Haus hinüber.
Es gab eine Klingel, aber kein Namensschild.
Zaghaft drückte er auf den Knopf. Nichts. Er drückte noch einmal. Diesmal fester und länger. Jetzt meinte er Geräusche zu hören, ein schnelles Tappen von Füßen, das plötzlich verstummte, dann sah er, wie das Licht im Spion sich änderte. Er wurde beobachtet.
Endlich öffnete sich die Tür. Ein Mann mit Anzug und Krawatte stand vor ihm. Es war der Mann, den er neulich mit einer Frau und den zwei Mädchen (welchen?) vor dem Haus gesehen hatte. Der Vater? Der Pseudovater?
War es Absicht, dass er sich so im Türrahmen breit machte, damit Ansgar nicht in das Innere des Hauses blicken konnte?
„Ja?“, fragte der Schlipsträger, und seine Augen bewegten sich rasch hin und her, als wolle er sich vergewissern, dass ihn niemand beobachtete.
„Guten Tag, Herr …?“
Der Mann reagierte nicht.
„Und? Was wollen Sie?“
„Ich bin ihr Nachbar von gegenüber“, sagte Ansgar, „und habe neulich den Ball auf der Straße gefunden. Und da dachte ich mir, er könnte vielleicht Ihren beiden Mädchen gehören.“
Absichtlich ließ er den Ball fallen, sodass er in den Flur rollte und der Mann gezwungen war, sich danach zu bücken.
„Oh, Entschuldigung – ist mir aus der Hand gerutscht.“
Ansgar nützte die Gelegenheit, um einen Blick in den Flur zu werfen.
Was er erkennen konnte, war ein völlig funktionaler Flur. Keine Garderobe, kein Spiegel. Eine Glühbirne hing von der Decke, obwohl die Leute schon seit Wochen darin wohnten.
Der Mann hatte den Ball aufgehoben und gab ihn mit einem mechanischen Grinsen zurück.
„Vielen Dank, der Ball gehört uns nicht.“
„Aber vielleicht wollen Sie die Mädchen fragen, ob er nicht doch ihnen …?“
„Die Mädchen spielen gar nicht mit einem Ball. Sie … sie haben andere Spiele.“
„Ach so“, meinte Ansgar, „na dann …“ Plötzlich kam ihm eine Idee: „Wollen Sie nicht mal einen Nachmittag mit den beiden herüberkommen und mich besuchen? Meine Enkelin ist auch gerade da. Sie ist im ähnlichen Alter. Dann können wir auf eine gute Nachbarschaft anstoßen?“
Der Mann blickte Ansgar an, als sei er nicht ganz bei Trost.
„Nein, vielen Dank, wir sind sehr beschäftigt und legen keinen Wert auf eine enge Nachbarschaft. Auf Wiedersehen!“
Die Tür fiel ins Schloss, und Ansgar stand verblüfft mit dem Ball in der Hand davor.
Auf jeden Fall, dachte er, als er in Gedanken zu seiner Wohnung zurückging, ist das kein übliches Wohnhaus. Irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor.
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