Er hängte den Mantel an den Haken und ging in die Küche. Zeit, das Essen vorzubereiten. Heute hatte er sich entschlossen, Maultaschen zu kochen. Die Brühe machte er aus einer Instantpackung, schnitt drei Mohrrüben und eine Stange Lauch klein und legte die Maultaschen, die es fertig zu kaufen gab, in die brodelnde Brühe.
Zehn Minuten sollten sie nur leicht kochen, und dann würde alles von selbst gar werden. Das ideale Gericht für ihn. Und Frida mochte es auch. Die Röstzwiebeln aus Dänemark streute man darüber, wenn die Maultaschen im Teller schwammen.
Kurz nach halb zwei kam Frida. Er hatte ihr einen Schlüssel gegeben, weil das Haus keine Sprechanlage hatte.
Sobald sie zur Tür hereinkam, änderte sich die Stimmung in der Wohnung. Sie brachte Wind und Sonne mit.
„Es riecht nach Maultaschen in der Brühe!“, rief sie und warf ihre Schultasche in die Flurecke.
„Richtig!“, nickte ihr Opa und sagte: „Hände waschen, und dann wird gegessen.“
Frida war ein Einzelkind. Ansgars Tochter Uta und ihr Mann Sören hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, aber es war bei diesem einen Kind geblieben. Manchmal schien es ihm, als ob sich alle Energie in diesem Mädchen geballt hätte. Frida war aber deswegen nicht unruhig. Manchmal konnte sie stundenlang konzentriert bei einer Bastelei sitzen oder ein Buch lesen, aber wenn sie von irgendetwas gepackt war, dann sprühte sie förmlich vor Unternehmungsgeist.
Ihre Frisur änderte sie fast jeden Tag. Die halblangen schwarzen Haare konnte sie in alle möglichen Formen bringen. Heute trug sie Pferdeschwanz.
Ansgar stellte den dampfenden Topf auf den Tisch, neigte seinen Kopf und betete: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“
„Amen!“, rief Frida und plapperte gleich los: „Was hast du denn heute so gemacht, Opa?“
„Na ja“, brummte er, „ehrlich gesagt nicht viel. Ich war einkaufen, hab mich kurz mit den neuen Nachbarn unterhalten, etwas gelesen und für uns gekocht. Weißt du, bei mir geht alles etwas langsamer und gemütlicher ab. Und du?“
Frida zerteilte eine Maultasche mit dem großen Löffel und steckte den einen Teil genießerisch in den Mund.
„Deutsch, Englisch, Mathe, Bio. Uff! Ich finde, im Gymnasium muss man irgendwie mehr lernen als in der Grundschule.“
„Klar“, nickte ihr Großvater. „Das schaffst du nicht mit Links.“
Sie löffelten eine Zeitlang stumm die Maultaschensuppe. „Du, Opa?“
„Ja?“
„Warum beobachtest du denn so genau das Haus gegenüber?“
Ansgar erstarrte. Er durfte sich jetzt nichts anmerken lassen.
„Mich interessiert eben die neue Nachbarschaft.“
„Und warum fotografierst du das Haus und die vielen Mädchen?“
„Woher weißt du das?“
„Hm, du weißt ja, ich bin total neugierig. Und als ich heute Nacht aufgewacht bin, habe ich ein bisschen herumgeschnüffelt und deinen Ordner entdeckt.“
Ansgar überlegte. Sollte er Frida von seinen Vermutungen erzählen? Warum eigentlich nicht?
„Na gut, dann kann ich es dir auch erzählen … Jedenfalls, in dem Haus gehen seltsame Dinge vor. Erstens: Es ist zu perfekt. Zweitens: Die Nachbarn sollen den Eindruck haben, dass eine ganz normale Familie mit zwei Mädchen in dem Haus wohnt, aber in Wirklichkeit sind es bisher vier Mädchenpaare, die alle ähnlich aussehen. Jeden Tag kommen neue, mittags und morgens.“
Ansgar schwieg und sah Frida an. Schließlich sagte sie: „Ja, das habe ich bei den Bildern auch gemerkt. Und weißt du, was ich denke?“
„Nein.“
„Ich denke, wir sind hier, um herauszufinden, was da los ist.“
Ansgar grinste. „Aha, so einfach ist das!“
„Klar“, nickte Frida. „Uns ist es aufgefallen, und deswegen müssen wir es auch herausfinden.“
Ansgar überlegte und sagte dann: „Ich hab übrigens heute unter einem Vorwand da drüben geklingelt, um einen Blick in das Haus zu werfen.“
„Und?“
„Es sieht so aus, als ob in dem Haus gar nicht richtig gewohnt wird. Da geht irgendetwas anderes vor sich. Aber was?“
„Mensch, das ist ja total spannend. Lass uns einen Plan machen.“
„Ja, aber vorher werden Hausaufgaben gemacht.“
Wir fuhren vom Gottesdienst nach Hause, saßen nachmittags draußen im Garten und aßen ein paar belegte Brote. Die Herbstsonne schien noch ziemlich intensiv. Unnötig zu erwähnen, dass Jeschua keine Sonnenmilch brauchte.
Wir hatten gerade gemeinsam überlegt, wie wir das Reisen organisieren sollten. Da meine Frau Charlotte einen normalen Beruf hatte und sich nicht einfach ein paar Wochen frei nehmen konnte, vereinbarten wir mit Jeschua, dass sie jeweils an den Wochenenden nachkommen würde.
„Aber bevor wir auf Reisen gehen“, sagte er zu mir, „solltest du einen Reinigungsprozess durchlaufen, damit du meine Gegenwart auf Dauer aushalten kannst.“
Ich fing an zu schwitzen. „Was für einen … einen Reinigungsprozess?“
Ich sah im Geist eine himmlische Waschmaschine, in die man mich stecken würde, und den anschließenden Schleudergang wollte ich mir erst gar nicht vorstellen.
„Denk an Jesaja, an Paulus und an die anderen“, sagte er. „Alle Leute, die mit Gott in Berührung kamen, mussten für ihren Dienst gereinigt oder geläutert werden.“
Ich erinnerte mich an die Berufung Jesajas, dessen Lippen mit glühenden Kohlen gereinigt wurden, natürlich nicht buchstäblich.
„Du vergleichst mich mit Jesaja, dem Giganten des Alten Testaments? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“
„Ich wollte dir nur Beispiele nennen. Ich selbst wurde auch in der Wüste gereinigt, bevor ich in die Öffentlichkeit trat. Eine sechswöchige Fastenkur.“
„Aber … aber warum denn? Ich soll dich doch nur begleiten und hinterher alles aufschreiben oder aufschreiben lassen.“
Jetzt lächelte Jeschua und sagte: „Es ist schon merkwürdig. Kein Jahrhundert hat so viel Wert auf äußere Reinigung gelegt wie dieses Jahrhundert. Es gibt tausend verschiedene Reinigungsmarken, vor jeder OP wird alles gründlich gereinigt und sterilisiert. Es gibt Reinigungsmilch für das Gesicht, es gibt Abführmittel, um den Darm vor einer Darmspiegelung zu reinigen. Millionen von Menschen arbeiten in Reinigungsfirmen, aber ausgerechnet der wichtigste Teil des Menschen, die Seele, scheint von der Reinigung ausgeschlossen zu sein. Niemand scheint es zu kümmern, dass euer Inneres mit der Zeit verdreckt, abstumpft und langsam einrostet!“
Ich schwieg betroffen und hörte ihm weiter zu.
„Ich habe euch doch die Vergebung zurückgelassen, damit ihr euch immer wieder reinigen könnt. Die Katholiken haben immerhin noch die Vergebung in Form eines alten Beichtrituals beibehalten, aber ihr Evangelischen denkt, man muss nur den Satz aussprechen: Ich bekenne meine Schuld , und alles sei weggewischt. Das wäre so ähnlich, wie wenn eine Putzfrau bei einem verdreckten Zimmer ausrufen würde: Ich bekenne, dass dieses Zimmer dreckig ist, ich glaube an die Reinigungskraft von Bürste und Seife. Und dann würde sie darauf hoffen, dass sich das Zimmer von selbst reinigt.
„Ja, aber“, begann ich, „muss ich jetzt in mich gehen und alles hervorholen, was ich an Falschheiten und Sünden in den letzten Jahren begangen habe und sie vor Gott präsentieren?“
„Keine Angst, diese Arbeit macht der Heilige Geist in dir. Du musst nur bereit sein, dich deinen Verkrustungen, blinden Flecken und Sünden zu stellen, sie Gott hinhalten, und er wird dir vergeben. Das ist wie das Bad in einem Kristallsee. Herrlich erfrischend.“
Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Ich will dich aber nicht bedrängen. Wenn du nicht gereinigt werden willst – okay. Alles im Reich Gottes geschieht freiwillig. Aber dann musst du damit rechnen, dass dir meine Gegenwart mit der Zeit auf die Nerven geht, dass du müde und lustlos wirst, kraftlos und ohne Elan. Es ist für mich kein Problem, jemand anderen zu finden. Also: überleg dir’s.“
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