Inhaltsverzeichnis
Das leere Haus
Der Baumeister aus Norwood
Die tanzenden Männchen
Die einsame Radfahrerin
Die Abtei-Schule
Der Schwarze Peter
Charles Augustus Milverton
Die sechs Napoleons
Die drei Studenten
Der goldene Kneifer
Der verschollene Three-Quarter
Abbey Grange
Der zweite Fleck
Editorische Notiz
Anmerkungen
Arthur Conan Doyle
Die Rückkehr des Sherlock Holmes
13 Geschichten
Covergestaltung: Steve Lippold
Digitalisierung: Gunter Pirntke
ISBN: 9783955012397
2014 andersseitig
andersseitig Verlag
Dresden
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Im Frühjahr 1894 wurde der Ehrenwerte Ronald Adair unter höchst ungewöhnlichen und unerklärlichen Umständen ermordet: Ganz London interessierte sich für diesen Fall, und die vornehme Welt war bestürzt. Die Öffentlichkeit kennt bereits diejenigen Einzelheiten des Verbrechens, die bei der polizeilichen Untersuchung zum Vorschein kamen, doch wurde hierbei einiges unterdrückt, da der Anklage der Fall so überwältigend klar zu liegen schien, daß sie es nicht für nötig hielt, mit allen Tatsachen herauszurücken. Erst jetzt, nach nahezu zehn Jahren, ist es mir erlaubt, jene fehlenden Glieder beizubringen, die diese bemerkenswerte Kette zu einem Ganzen machen. Das Verbrechen war für mich schon an sich von Interesse, doch war dieses Interesse nichts im Vergleich zu dem Unfaßbaren, das darauf folgte und das mir den größten Schrecken und die größte Überraschung in meinem an Abenteuern reichen Leben bescherte. Selbst jetzt, nach einem so langen Zeitraum, schaudere ich bei dem Gedanken daran und empfinde noch einmal den jähen Strom von Freude, Erstaunen und Ungläubigkeit, der damals meinen Geist vollkommen überschwemmte. Ich sage der Öffentlichkeit, die an jenen flüchtigen Einblicken, die ich ihr gelegentlich in die Gedanken und Taten eines sehr bemerkenswerten Mannes gewährt habe, einiges Interesse gezeigt hat, sie möge mich nicht tadeln, wenn ich mein Wissen nicht mit ihr geteilt habe, denn dies hätte ich für meine oberste Pflicht gehalten, wäre ich nicht durch ein ausdrückliches Verbot aus seinem Munde, das erst am Dritten vorigen Monats aufgehoben wurde, davon abgehalten worden.
Man kann sich vorstellen, daß meine enge Vertrautheit mit Sherlock Holmes ein tiefes Interesse für das Verbrechen in mir erweckt hatte und daß ich nach seinem Verschwinden niemals versäumte, die verschiedenen Probleme, die an die Öffentlichkeit gelangten, sorgfältig zu studieren. Mehr als einmal versuchte ich gar, zu meiner persönlichen Genugtuung seine Methoden anzuwenden, freilich mit wenig Erfolg. Nichts jedoch reizte mich so sehr wie die Tragödie des Ronald Adair. Als ich die bei der Untersuchung des Mordfalls gemachten Zeugenaussagen las, die zu einem Schuldspruch wegen vorsätzlichen Mordes gegen einen oder mehrere Unbekannte führten, wurde ich des Verlusts, den das Gemeinwesen durch Sherlock Holmes' Tod erlitten hatte, deutlicher als je zuvor gewahr. Diese merkwürdige Affaire wies einige Punkte auf, die ihn, davon war ich überzeugt, ganz besonders gereizt haben würden; und die Bemühungen der Polizei wären von der geübten Beobachtungsgabe und dem scharfen Verstand des vorzüglichsten Kriminalisten Europas unterstützt oder wahrscheinlicher noch vorweggenommen worden. Auf den Wegen zu meinen Hausbesuchen überdachte ich täglich den Fall und fand keine Erklärung, die mir passend zu sein schien. Auf das Risiko hin, eine bereits erzählte Geschichte noch einmal zu erzählen, werde ich nun die Tatsachen rekapitulieren, wie sie der Öffentlichkeit bei Abschluß der Untersuchung bekannt waren.
Der Ehrenwerte Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen von Maynooth, seinerzeit Gouverneur einer der australischen Kolonien. Adairs Mutter war aus Australien zurückgekehrt, um sich am grauen Star operieren zu lassen, und sie wohnte mit ihrem Sohn Ronald und ihrer Tochter Hilda in Park Lane 427. Der Jüngling bewegte sich in der besten Gesellschaft – und hatte, soweit bekannt, weder Feinde noch spezielle Laster. Er war mit Miss Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen, doch war die Verlobung wenige Monate zuvor in gegenseitigem Einvernehmen gelöst worden; und es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß dies irgendein sonderlich tiefes Gefühl hinterlassen hätte. Denn das restliche Leben dieses Mannes bewegte sich in einem engen und herkömmlichen Kreis: Sein Auftreten war ruhig und sein Wesen leidenschaftslos. Und doch ereilte diesen gelassenen jungen Aristokraten der Tod in höchst seltsamer und unerwarteter Form, und zwar zwischen zehn und elf Uhr zwanzig in der Nacht des 30. März 1894.
Ronald Adair spielte gern Karten – er spielte ständig, jedoch nie um Einsätze, die ihm hätten schaden können. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und Bagatelle-Karten-Clubs. Es erwies sich, daß er am Tage seines Todes nach dem Abendessen im letztgenannten Club einen Robber Whist 1 gespielt hatte. Am Nachmittag hatte er ebenfalls dort gespielt. Nach den Aussagen seiner Mitspieler – Mr. Murray, Sir John Hardy und Colonel Moran – wurde Whist gespielt, und das Kartenglück verteilte sich ziemlich gleichmäßig. Adair mochte fünf Pfund, aber nicht mehr, verloren haben. Sein Vermögen war beträchtlich, und ein solcher Verlust konnte ihn in keiner Weise berühren. Er hatte nahezu täglich in dem einen oder anderen Club gespielt, doch war er ein bedächtiger Spieler und ging gewöhnlich als Gewinner vom Platz. Die Zeugenvernehmung ergab, daß er zusammen mit Colonel Moran vor einigen Wochen bei einer Sitzung runde vierhundertundzwanzig Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. So viel zu seiner jüngsten Geschichte, wie sie sich bei der Untersuchung ergab.
Am Abend des Verbrechens kam er um genau zehn Uhr nach Hause. Seine Mutter und seine Schwester waren mit einem Verwandten ausgegangen. Die Bedienstete sagte unter Eid aus, sie habe ihn das Vorderzimmer im zweiten Stock betreten hören, welches er gewöhnlich als Wohnzimmer benutzte. Sie hätte dort den Kamin angezündet, dieser hätte jedoch geraucht und sie daher ein Fenster geöffnet. Kein Geräusch sei aus dem Zimmer gedrungen, bis um zwanzig nach elf Lady Maynooth und ihre Tochter nach Hause gekommen seien. Diese wollte ihrem Sohn eine gute Nacht wünschen und versuchte, sein Zimmer zu betreten. Die Tür war von innen verschlossen, und ihr Rufen und Klopfen wurde nicht beantwortet. Man holte Hilfe, und die Tür wurde aufgebrochen. Der unglückliche junge Mann lag neben dem Tisch. Sein Kopf war von einer platzenden Revolverkugel gräßlich zerfetzt, doch wurde in dem Zimmer keinerlei Waffe irgendeiner Art gefunden. Auf dem Tisch lagen zwei Zehn-Pfund-Banknoten sowie siebzehn Pfund und zehn in Silber und Gold; das Geld war in kleinen Haufen verschiedener Beträge geordnet. Auf einem Blatt Papier fanden sich dazu einige Ziffern, bei denen die Namen einiger seiner Clubfreunde standen, woraus gefolgert wurde, daß er vor seinem Tode damit beschäftigt war, seine Verluste oder Gewinne beim Kartenspielen zusammenzustellen.
Eine eingehende Untersuchung der Umstände führte lediglich zu einer weiteren Komplizierung des Falles. Vor allem war kein Grund dafür zu finden, warum der junge Mann die Tür von innen verschlossen haben sollte. Man erwog die Möglichkeit, sein Mörder habe dies getan und sei hinterher durch das Fenster entwichen. Dort ging es jedoch mindestens zwanzig Fuß tief hinunter, und unten befand sich ein Krokusbeet in voller Blüte. Weder die Blumen noch die Erde wiesen irgendein Zeichen einer Beeinträchtigung auf, und auf dem schmalen Rasenstreifen, der das Haus von der Straße trennte, waren ebenfalls keine Spuren zu finden. Der junge Mann hatte daher offenbar selbst die Tür verschlossen. Aber wie ereilte ihn der Tod? Niemand konnte zu dem Fenster hinaufgeklettert sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, jemand hatte durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig ein bemerkenswerter Schütze sein, der mit einem Revolver eine solche tödliche Wunde beizubringen vermochte. Andererseits ist Park Lane eine belebte Durchgangsstraße; hundert Yards vom Haus entfernt befindet sich ein Droschkenstand. Niemand hatte einen Schuß gehört. Und doch gab es den Toten und die Revolverkugel, die sich nach Art von Dumdumgeschossen pilzförmig verformt und so eine Wunde verursacht hatte, die zum sofortigen Tod geführt haben mußte. Soweit die Umstände des Rätsels von der Park Lane, die sich des weiteren durch das völlige Fehlen eines Motivs verkomplizierten, da der junge Adair, wie ich bereits sagte, mutmaßlich keinerlei Feinde hatte und ferner nicht versucht worden war, das Geld oder die Wertsachen aus dem Zimmer zu entfernen.
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