Inhaltsverzeichnis
Silberstern
Das gelbe Gesicht
Der Angestellte des Börsenmaklers
Die »Gloria Scott«
Das Musgrave-Ritual
Die Junker von Reigate
Der Verwachsene
Der niedergelassene Patient
Der griechische Dolmetscher
Der Flottenvertrag
Das letzte Problem
Editorische Notiz
Anmerkungen
Covergestaltung: Steve Lippold
Digitalisierung: Gunter Pirntke
ISBN: 9783955012380
2014 andersseitig.de
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
(mehr unter Impressum-Kontakt)
»Ich fürchte, Watson, ich werde doch fahren müssen«, sagte Holmes, als wir eines Morgens zu unserem gemeinsamen Frühstück Platz nahmen.
»Fahren! Wohin?«
»Nach Dartmoor – nach King's Pyland.«
Ich war nicht überrascht. Eigentlich wunderte es mich nur, daß er nicht schon längst in diesen außergewöhnlichen Fall verwickelt war, der in England landauf landab das Gesprächsthema bildete. Einen ganzen Tag lang war mein Gefährte mit auf die Brust gedrücktem Kinn und gerunzelter Stirn durchs Zimmer gestrichen, seine Pfeife wieder und wieder mit dem stärksten schwarzen Tabak stopfend und völlig taub für jede meiner Fragen oder Bemerkungen. Die neuesten Ausgaben sämtlicher Blätter waren von unserem Zeitungshändler heraufgeschickt worden, nur um überflogen und in eine Ecke geworfen zu werden. Aber so schweigsam er auch war, wußte ich doch ganz genau, worüber er brütete. Von den Problemen, die derzeit die Öffentlichkeit beschäftigten, gab es nur eines, das seine analytischen Fähigkeiten herausfordern konnte, und das war das eigenartige Verschwinden des Favoriten für den Wessex Cup und der tragische Mord an dessen Trainer. Als er daher plötzlich seine Absicht ankündigte, sich zum Schauplatz des Dramas zu verfügen, tat er damit nur, was ich sowohl erwartet als auch erhofft hatte.
»Ich wäre überglücklich, Sie begleiten zu dürfen, wenn ich Ihnen nicht im Wege bin«, sagte ich.
»Mein lieber Watson, Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mitkämen. Und ich glaube, Sie werden Ihre Zeit nicht vergeuden, denn es gibt Umstände an diesem Fall, die ihn zu einem absolut einzigartigen zu machen versprechen. Ich denke, wir haben eben noch Zeit, in Paddington unseren Zug zu erreichen, und ich werde während der Reise ausführlicher auf die Angelegenheit eingehen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren ausgezeichneten Feldstecher mitnähmen.«
Und so geschah es, daß ich mich etwa eine Stunde später, auf dem Wege nach Exeter dahinfliegend, in der Ecke eines Erster-Klasse-Abteils befand, während Holmes, das scharfgeschnittene, gespannte Gesicht von seiner Reisemütze mit Ohrenklappen umrahmt, rasch das Bündel neuer Zeitungen durchblätterte, die er sich in Paddington besorgt hatte. Wir hatten Reading weit hinter uns gelassen, als er die letzte unter den Sitz schob und mir sein Zigarrenetui anbot.
»Wir kommen gut voran«, sagte er, indem er aus dem Fenster sah und einen Blick auf seine Uhr warf. »Unsere Geschwindigkeit beträgt derzeit dreiundfünfzigeinhalb Meilen pro Stunde.«
»Ich habe nicht auf die Viertelmeilen-Pfosten geachtet«, sagte ich.
»Ich auch nicht. Aber die Telegraphenmasten auf dieser Strecke stehen im Abstand von sechzig Yards, und so ist die Rechnung einfach. Ich nehme an, Sie haben sich schon mit dem Mord an John Straker und dem Verschwinden von Silberstern beschäftigt?«
»Ich habe gelesen, was der Telegraph und der Chronicle dazu zu sagen haben.«
»Es handelt sich um einen jener Fälle, wo der Denkende seine Kunst eher daran wenden sollte, die Einzelheiten zu sichten, anstatt neues Beweismaterial zu beschaffen. Die Tragödie war so außergewöhnlich, so total und von solch persönlicher Bedeutung für so viele Leute, daß wir an einer Überfülle von Vermutungen, Annahmen und Hypothesen leiden. Die Schwierigkeit besteht darin, den Rahmen der Tatsachen – der absoluten, unleugbaren Tatsachen – von den Ausschmückungen der Theoretiker und Berichterstatter zu trennen. Stehen wir erst einmal auf dieser soliden Grundlage, so ist es unsere Aufgabe, festzustellen, welche Schlüsse sich ziehen lassen und welches die Besonderheiten sind, von denen das ganze Rätsel abhängt. Dienstag abend erhielt ich sowohl von Colonel Ross, dem Besitzer des Pferdes, als auch von Inspektor Gregory, der sich mit dem Fall befaßt, Telegramme, in denen ich um meine Mitarbeit gebeten wurde.«
»Dienstag abend!« rief ich aus. »Und jetzt haben wir Donnerstag vormittag. Warum sind Sie nicht schon gestern hingefahren?«
»Weil ich einen Schnitzer gemacht habe, mein lieber Watson – was, wie ich fürchte, häufiger vorkommt, als jemand annehmen würde, der mich nur durch Ihre Memoiren kennt. Tatsache ist, daß ich es einfach nicht für möglich hielt, daß das bemerkenswerteste Pferd Englands lange verborgen bleiben könnte, zumal in einer so spärlich besiedelten Gegend wie dem nördlichen Dartmoor. Gestern rechnete ich Stunde um Stunde mit der Nachricht, es sei gefunden worden und sein Entführer sei der Mörder von John Straker. Als aber ein weiterer Morgen angebrochen war und ich feststellte, daß man außer der Verhaftung des jungen Fitzroy Simpson nichts erreicht hatte, bekam ich das Gefühl, es sei an der Zeit für mich, tätig zu werden. Und doch habe ich in mancherlei Hinsicht das Gefühl, der gestrige Tag war nicht vergeudet.«
»Also haben Sie eine Theorie aufgestellt?«
»Zumindest habe ich die wesentlichen Tatsachen des Falles im Griff. Ich werde Sie Ihnen aufzählen, denn nichts erhellt einen Fall so sehr, als wenn man ihn jemand anderem darlegt, und ich kann kaum mit Ihrer Mitarbeit rechnen, wenn ich Ihnen nicht aufzeige, von welcher Sachlage wir ausgehen.«
Ich lehnte mich, an meiner Zigarre paffend, in die Polster zurück, während Holmes sich vorbeugte und mir, indem er mit seinem langen, dünnen Zeigefinger die einzelnen Punkte auf seiner linken Handfläche abhakte, einen Überblick über die Ereignisse gab, die zu unserer Reise geführt hatten.
»Silberstern«, sagte er, »stammt von Isonomy ab und hält einen ebenso glänzenden Rekord wie sein berühmter Stammvater. Er ist jetzt fünf Jahre alt und hat Colonel Ross, seinem glücklichen Besitzer, nacheinander sämtliche Rennpreise eingebracht. Bis zum Zeitpunkt der Katastrophe galt er, bei einer Quote von drei zu eins, als erster Favorit für den Wessex Cup. Für das Rennpublikum war er allerdings schon immer der Hauptfavorit und hat es bisher nie enttäuscht, so daß auch bei niedrigen Quoten enorme Summen auf ihn gesetzt wurden. Es ist daher offenkundig, daß es sehr viele Leute gab, die das stärkste Interesse daran hatten, zu verhindern, daß Silberstern nächsten Dienstag am Start ist, wenn die Flagge fällt.
Dieser Tatsache war man sich in King's Pyland, wo der Trainingsstall des Colonel liegt, natürlich bewußt. Jede Vorsichtsmaßnahme wurde ergriffen, um den Favoriten zu beschützen. Der Trainer, John Straker, ist ein ehemaliger Jockey, der für Colonel Ross' Farben geritten ist, ehe er für die Waage zu schwer wurde. Er hat dem Colonel fünf Jahre als Jockey und sieben als Trainer gedient und sich stets als diensteifriger und ehrlicher Angestellter erwiesen. Ihm waren drei Burschen unterstellt, denn die Anlage ist klein und umfaßt insgesamt nur vier Pferde. Einer dieser Burschen wachte jede Nacht im Stall, während die anderen auf dem Futterboden schliefen. Alle drei haben einen ausgezeichneten Leumund. John Straker, der verheiratet ist, wohnte in einem kleinen Haus etwa zweihundert Yards von den Ställen entfernt. Er hat keine Kinder, beschäftigt ein Hausmädchen und ist leidlich gut gestellt. Das umliegende Land ist sehr einsam, aber eine halbe Meile weiter nördlich liegt eine kleine Gruppe von Landhäusern, die ein Unternehmer aus Tavistock gebaut hat für Gebrechliche und andere, die die reine Luft von Dartmoor genießen wollen. Tavistock selbst liegt zwei Meilen westlich, und jenseits des Moores, gleichfalls etwa zwei Meilen entfernt, befindet sich das größere Trainingsgelände von Capleton, das Lord Backwater gehört und von Silas Brown geleitet wird. Nach jeder anderen Richtung ist das Moor eine einzige Wildnis, bewohnt nur von einigen umherstreifenden Zigeunern. Das war die allgemeine Lage vergangenen Montagabend, als sich die Katastrophe ereignete.
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