„Und weshalb gerade China?“, wollte Christian wissen.
„Kein Land hat 1938 Juden mehr aufgnommen … alle Staaten habn sich hinter irgendwelchen bürokratischen Hürden versteckt. Nur in China warn die Regierenden so zerstritten, dass Flüchtlinge weder ein Visum noch einen Bürgen oder viel Geld braucht haben … Schanghai war der letzte Ausweg.“
„Komisch … Papa hat nie was erzählt davon.“
„Ja“, sie wurde leise und kämpfte gegen Tränen, „es muss furchtbar für ihn gwesen sein … denn 1946 ist euer Großvater in Schanghai an Lungenkrebs gestorben. Für euren Vater – der war da sechzehn – ein Albtraum: Erst wurde seine Mutter deportiert und ist nicht wieder kommen … und dann musste der Bub zuschauen, wie sein Vater elendig zugrunde gangen ist. Das hat Alfred nie richtig überwunden … der Name Josef hat ihn auch später noch jedes Mal zusammenzucken lassen. Über die Jahre in China hat er nie reden wollen. Mit niemand! Selbst mir hat er es nur ein einziges Mal erzählt. Kurz nach unserer Hochzeit.“
„Wie ist er überhaupt zurückgekommen?“
„Ein Onkel hat ihn über das Rote Kreuz gfunden.“
„Und warum hat er sich plötzlich wieder dafür interessiert?“
Mutter wirkte unsicher, sagte nichts.
Alle schwiegen.
Natürlich wusste Christian, dass er eine jüdische Großmutter hatte. Somit war auch sein Vater – irgendwie – Jude. Und damit auch Christian – zumindest ein bißchen. Trotzdem wurde über die jüdischen Wurzeln in der Familie nie geredet. Als Jugendlicher hatte Christian ein paarmal seinen Vater darauf angesprochen. Zwar hatte ihm Alfred von seiner jüdischen Großmutter erzählt, doch rasch auf ein anderes Thema abgelenkt. Vergangenheit und Religion hatten ihn nie interessiert. Christian konnte ja verstehen, dass Vater die Erinnerung an seine ermordete Mutter zu sehr gequält hat, um darüber zu sprechen. Ohnehin fühlte sich Vater nur als Unternehmer lebendig, als Kämpfer im Hier und Jetzt. Zu tief steckten in ihm Existenzängste. Christian kannte ihn fast nur in Sorge um die Firma, rund um die Uhr, auch am Tag des Herrn. Oft begleitete er zwar Christians katholische Mutter in die Kirche, aber nicht, weil ihm der Gottesdienst etwas bedeutete – vielmehr traf er nach der Messe wichtige Leute: den Bürgermeister, Unternehmerkollegen, hohe Beamte. Die Heilige Messe als Netzwerk-Zentrale. In Tirol absolut üblich. Immer schon. Immer noch.
Ein paarmal schon hatte Christian das Bedürfnis verspürt, mit Vater über dessen religiöse Haltung zu reden, doch er wusste, wie schnell Alfred das Thema abbügeln würde – und ließ es sein. Jetzt erst wurde Christian bewusst, wie vorsichtig und diplomatisch er mit Vater umgegangen war.
Sie sind zu nett, Herr Selikowsky!
Christian bereute es, Vater nicht hartnäckiger nach seiner Kindheit befragt zu haben, nun würde es noch schwieriger werden, etwas darüber zu erfahren. Vielleicht war es sogar unmöglich.
„Es könnte auch eine Frage des Alters sein“, unterbrach Sonja vorsichtig das peinliche Schweigen, „vielleicht wollte euer Vater seine eigene Geschichte ergründen … und wissen, wer sein Vater wirklich war.“
Dankbar nickte die Mutter und zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht.“
Christian fiel die letzte Begegnung mit seinem Vater ein. Vor einem halben Jahr. Sie hatten über Flugzeuge gesprochen. Ob es besser sei, mit einem Airbus oder einer Boeing zu fliegen. Insbesondere die Langstrecke. Oberflächlich betrachtet ein Vater-Sohn-Gespräch über technische Details. In Wirklichkeit aber glaubte Christian damals, in Vaters Augen eine Sehnsucht erkannt zu haben. Eine Sehnsucht nach Ferne, die Christian nur allzu vertraut war. Jene Sehnsucht, die Christian von zu Hause weg nach Wien getrieben hatte und von der er lange überzeugt war, dass sie bei seinem Vater – wenn überhaupt – nur in seiner Jugend vorhanden gewesen war.
„Vater war in diesem Jahr schon einmal in China“, setzte Christian nach, „was könnte er denn da gemacht haben?“
„Wie kommst’n drauf?“ Energisch schüttelte die Mutter den Kopf.
„Und in drei Tagen wollte er wieder nach Schanghai!“
„Da hat er eine Reise nach Frankfurt vorghabt, das weiß ich genau!“
„Ja?“
„Ja!“
Skeptisch sah Christian seine Mutter an. Fahrig sprang Lutz auf und holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier.
„Bevor Papa die Firmenleitung endgültig an Lutz übergeben wollt“, sagte die Mutter, „hat er sich vorgnommen, mit dem deutschen Vertriebspartner einen neuen Zwei-Jahresvertrag abzuschließen. Damit Lutz es leichter hat!“
Christian war hin- und hergerissen. Er wollte Mutter nicht kränken, hatte ein schlechtes Gewissen: Ohne sein Versprechen hätte er die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, aber er musste immerzu an seinen Albtraum und an die Therapeutin denken. Zögernd schob er das Schanghai-Flugticket rüber. Als die Mutter das Datum und Vaters Namen las, schaute sie Christian konsterniert an. Sagte kein Wort. Sah zu Boden. Lange. Sehr lange. Dann stand sie auf und hinkte zur Tür.
„Vater hatte kurz vor seinem Zusammenbruch Besuch von einer chinesischen Dame“, rief er Mutter nach und verspürte einen starken Widerwillen, jetzt weiter nachzuhaken. Sein Blick raste zwischen Lutz und Mutter hin und her: „Entschuldigt, aber wer von euch beiden kann mir sagen, was diese Frau von Papa wollte? Wer ist diese Chinesin überhaupt?“
„Eine Geschäftspartnerin“, zischte Lutz, „was sonst? Sie war im Büro und nicht auf einer Tretbootfahrt!“
Die Mutter hielt inne. Und warf die Tür hinter sich zu. Erbost sah Lutz seinen Bruder an: „Was soll das? Mama hat’s doch schon schwer genug!“
„Versteh doch“, meinte Christian, „ich will nur die Wahrheit wissen: Was ist bei dem Treffen mit der Chinesin passiert? Warum hat Vater seine Pillen nicht genommen, obwohl sie griffbereit in seiner Tischlade gelegen sind?“
„Vielleicht hat sie Papa ja genommen. Und ist trotzdem gestorben!“ Wortlos erhob sich Lutz und folgte der Mutter.
Sonjas verärgerter Blick traf Christian von der Seite: Musste das jetzt sein?
Christians Herz pochte. Gedanken, Bilder und Fragen tobten in seinem Kopf: Warum mauerte Lutz? Weshalb entzog sich Mutter der Diskussion? Was hat Vater in China gemacht? Die Umstände von Vaters Tod, das Verhalten seiner Familie und der Besuch der chinesischen Dame nährten in Christian einen Verdacht: Weder er noch die Polizei hatten verstanden, was tatsächlich geschehen war. Es war subtiler, tiefer, rätselhafter. Am meisten aber erschütterte ihn, wie wenig er wusste, was seinen Vater wirklich bewegt hatte.
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