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Die Familie stand im Hof und beobachtete, wie die Bestatter den Sarg in den schwarzen Combi schoben. Christian roch den Schweiß der Männer, hörte das Quietschen des Metallsargs auf den Schienen der Ladefläche, das Zuklappen der Wagentür, das Starten, vorbei.
Die Mutter hielt sich an Lutz fest und ließ sich von ihm zu seinem Volvo führen. Christian zückte sein Handy, wollte ein Taxi rufen, da sah er vor dem Tor des Firmengeländes einen blauen Polo mit einer Person am Steuer. Er bat Sonja, im Empfangsraum zu warten. Rasch ging er auf den Polo zu. Er klopfte an der Beifahrertür und setzte sich zu Frau Armbrust. Mit Tränen in den Augen starrte sie dem Leichenwagen hinterher. Christian musterte sie fragend.
„Lutz hat mich angerufen und es mir gesagt“, rang sie um Worte, „aber ich hab’s nicht geschafft, ins Büro zu gehen … konnte einfach nicht! Wir haben über 30 Jahre zusammen gearbeitet … warum muss das gerade ihm passieren?“ Sie trocknete die Tränen mit einem Stofftuch, es war durchnässt. „Ich hätte nicht Feierabend machen dürfen … bevor ich gegangen bin, hab ich ihn gefragt, ob er noch was braucht … aber er hat mich nur gebeten, die chinesische Besucherin ins Hotel zu fahren. Er wollte nicht, dass ich noch mal zurückkomme, nicht wahr!“
Warum sagt sie diese Floskel , fragte sich Christian und setzte nach: „Frau Armbrust, ich war schon immer beeindruckt, wie fürsorglich Sie Vater betreut haben. Er hat mir ein paarmal stolz erzählt, dass er mit Ihnen die beste Assistentin der Welt hat …“
Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
„… die ihn sogar auf das Einnehmen seiner Herz-Medikamente aufmerksam macht.“
Verunsichert schaute sie zu Christian – und wieder weg.
„Es ist kein Geheimnis“, sagte er, „und bis auf meine Mutter wissen es in der Firma fast alle: Sie haben sich um Vater mehr als nur beruflich gekümmert.“
Ihre Tränen versiegten, einen Moment zögerte sie, dann widerstand sie seinem Blick: „Ja, wir haben uns gut verstanden, nicht wahr. Er hat mich oft auf Geschäftsreisen mitgenommen. Doch vor etwa einem Jahr haben wir uns privat getrennt. Ich habe seither einen neuen Lebenspartner und meine Beziehung zu Ihrem Vater war nur noch professioneller Natur. Früher habe ich mich auch um seine Medikamente gekümmert, das stimmt, doch seit einem Jahr hat das Herr Selikowsky wieder selbst getan!“
„Er hatte doch immer seine Medikamente dabei, oder?“
„Ja, in seiner Schreibtischlade. Aber die hat er versperrt, die war für alle tabu!“
„Hatten Sie einen Schlüssel dafür?“
„Nein.“
„Was wollte denn die Chinesin von Vater?“
„Irgendwelche Geschäfte. Herr Selikowsky mochte mit niemandem darüber reden. Auch mit mir nicht.“
„Wie haben sich die Besuche auf Vater ausgewirkt? Ist Ihnen da eine Veränderung aufgefallen?“
Sie machte eine indifferente Kopfbewegung.
„Mir ist, als hätte ich die Dame schon mal wo gesehen … aber wo?“ Frau Armbrust wich seinem Blick aus: „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“
„Was mich verwundert: Warum spricht die Chinesin fast perfekt Deutsch?“
„Habe ich sie auch gefragt. Sie hat zwei Jahre in Hannover studiert.“
„Und wo ist sie jetzt?“
„Im Hotel Tirolerhof. Da habe ich sie jedenfalls hingebracht.“ „Wie oft hat sie Vater schon besucht?“
„Vielleicht zwei-, dreimal.“ Frau Armbrust kämpfte neuerlich gegen Tränen.
„Glauben Sie, dass die chinesische Dame etwas mit Vaters Tod zu tun hat?“
Sie zuckte die Schultern und verlor ihren Kampf. Christian reichte ihr ein Taschentuch.
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Das Rot des Sonnenuntergangs spiegelte sich im Schellack der dunklen Wandvertäfelung. Christian setzte sich an den Schreibtisch von Vater und versuchte, seine schwere Holzschublade zu öffnen. Versperrt.
„Ich fühl mich hier nicht wohl. Lass uns bitte gehen“, sagte Sonja. Sie lehnte an der Tür und kramte in ihren Taschen. Christians Blick fiel auf die Teetassen, aus denen offensichtlich Vater und seine chinesische Besucherin getrunken hatten. Der Teller, auf dem zuvor die chinesischen Glückskekse gelegen hatten, war leer. Nur ein paar Krümel befanden sich noch darauf. Hatte die Kekse jemand aufgegessen? Oder etwa verschwinden lassen?
Mit aller Kraft zog Christian noch mal an der Schublade. Sie bewegte sich nicht. Keinen Millimeter.
„Was willst du noch hier?“, fragte Sonja und entdeckte in ihrer Anoraktasche eine Packung Schokopastillen.
„Ich suche einen Schlüssel: groß, plump, Messing!“
„Groß, plump, Messing“, wiederholte Sonja und half suchen, doch sie fanden den Schlüssel nicht. Die Pastillen kauend wandte sich Sonja zur Tür und wollte gehen. Er spürte: Es wäre jetzt angenehmer, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber er musste immer wieder an sein Versprechen denken, an seine Albtraumserie, die vielleicht nur eine Warnung gewesen war, ein Schuss vor den Bug. Sollte er die Lade aufbrechen? Oder die Polizei bitten, sie zu öffnen? So wie Weirather ihn zuvor behandelt hatte, würde der alte Bulle die Angelegenheit nur neuerlich mit ein paar beschönigenden Sätzen abtun. Erst wenn Christian einen handfesten Beweis hatte, dass mit Vaters Tod etwas nicht stimmte, konnte er mit polizeilicher Hilfe rechnen.
Er schob die Teetassen zur Seite, griff zu einem schweren Bronze-Brieföffner und brach die Tischlade mit Gewalt auf. Darin eine Packung Betablocker und eine Schachtel ACE-Hemmer. Christian öffnete beide – in jeder waren noch Blister mit einigen Pillen. Er war verblüfft: Vater hatte also ausreichend Medizin gehabt! Hatte ihn jemand daran gehindert, sie einzunehmen?
Christian verschloss die Packungen und schob sie zurück. Daneben lag Vaters Pass. Und ein abgegriffenes Sachbuch über das Schanghai der 1940iger Jahre. An einige Seiten hatte jemand kleine, gelbe Haftnotizen geklebt. Auf jeder erkannte Christian die Schrift des Vaters: A7, J2, L5. Möglicherweise Quadrantenzahlen, die Orten auf dem Stadtplan von Schanghai entsprachen. Was wollte Vater damit?
Nun wurde Sonja doch neugierig und kam näher. Christian war das plötzlich unangenehm: „Wo bist du eigentlich mit Lutz gewesen?“
„Er hat mir die Werksgebäude erklärt.“
„So lange?“
Sie schüttelte den Kopf, öffnete ihr Haar und steckte sich eine weitere Schokopastille in den Mund: „Einen Stock tiefer hat er mir ein Video über die Firmengeschichte gezeigt.“ „War er die ganze Zeit dabei?“
„Die ersten paar Minuten. Warum fragst du?“
Christian antwortete nicht. Er musste an das komische Geräusch aus dem Büro von Lutz denken und an die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern – die Idee, sein Bruder könnte etwas mit Vaters Tod zu tun haben, schreckte ihn. Aber noch wichtiger erschien ihm jetzt, Gewissheit zu erlangen – was war tatsächlich passiert?
Die Sonne ging unter, das dunkle Holz der Wände fraß die letzten Lichtstrahlen. Er schaltete die Schreibtischlampe an. Im hinteren Teil der Lade fand Christian Unterlagen zu einem chinesischen Sprachkurs für Fortgeschrittene, ein chinesisch-deutsches Wörterbuch sowie zahlreiche Restaurant- und Hotelrechnungen aus Schanghai – ausgestellt auf Alfred Selikowsky. Vater hatte also Schanghai im letzten Jahr besucht. Mehrmals. Christian fragte sich, wer aller davon wusste. War Vater nur bei ihm so schweigsam, weil er für Vater immer als schwarzes Schaf gegolten hatte und wegen seiner künstlerischen Ambitionen von allen belächelt wurde? Nie mehr würde er mit Vater darüber reden können. Christian kämpfte gegen Tränen.
„Und dann?“, fragte er Sonja.
„Ist Lutz gegangen. Er hat gesagt, er muss noch dringend telefonieren … wegen irgendeines Golfturniers.“
Nur zu gut hatte Christian miterlebt, wie sehr Lutz die Veranstaltungen des Tiroler Geldadels liebte; er ließ sich gerne auf Charity-Events blicken und versuchte auf Golfturnieren im Schatten der Alpen zu glänzen. Ein paarmal hatte ihn Lutz zu solchen Veranstaltungen mitgeschleppt, doch Christian fühlte sich in dem geltungssüchtigen Umfeld nie wohl.
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