Diethelm Brüggemann138 versucht dem Leser jegliche Orientierung in Kleists Texten als Illusion nachzuweisen, indem er sich selbst der Mittel der Boulevardpresse und von diktatorischen Gerichts- und Verhörmethoden bedient, die er Kleists Erzähler unterstellt, der seine Leser manipuliere. Strategie ist bei Brüggemann vornehmlich die jeglichen Kontext ignorierende Zitierweise, die durch Zeit oder Umstände bedingte gegensätzliche Aussagen zu einer Sache – sei es die Aussage einer Person oder der Erzählung – unmittelbar miteinander konfrontiert, um so die sozusagen als Zeugen der Interpretation fungierende literarische Figur oder Erzähleraussage als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Es sei, so bemüht er sich z. B. nachzuweisen, ein allgemein verbreiteter Irrtum innerhalb der Kleist-Forschung, dass es für die Forderung des Junkers nach einem Passschein auf der Grundlage eines Einfuhrverbots für brandenburgische Pferde keine gültige Rechtsgrundlage gegeben habe. Darum entbehre Kohlhaasens Rache überhaupt jeglicher Berechtigung und die Erzählung führe die Leser an der Nase herum, indem sie ihnen suggeriere, Kohlhaas könne eventuell einen Rechtsgrund gegen Tronka gehabt haben. Denn in ihrer Eingabe an das Gericht in Dresden hätten die Junker Tronka auf ein vor vielen Jahren erlassenes Gesetz hinweisen können. Es ist nun symptomatisch für Brüggemanns Methode, dass er den Verweis auf dieses Gesetz nicht in Relation zum Kontext seiner Vorbringung innerhalb der Verzögerungs- und Verwischungstaktik des dresdener Prozesses gegen Kohlhaas stellt, auch nicht in Relation zu dem Kohlhaas erteilten und öfters wiederholten Gerichtsbescheid, dass ein solches Gesetz derzeit nicht in Geltung sei. Sondern Brüggemann verlangt, dass die Handlung nach diesem veralteten Gesetz beurteilt wird, von dem in ihr niemand etwas weiß und wissen kann, bis es zu seiner rabulistischen Verwendung absichtsvoll wieder ausgegraben wurde. Eine solche methodische Vorgehensweise Brüggemanns hat nicht wissenschaftliche Erkenntnis zum Ziel, sondern ist boshafte Stiftung von Verwirrung, die sich unredlicher Verfahren bedient. Nicht Kleist, sondern Diethelm Brüggemann manipuliert seine Leser.
Hingewiesen sei abschließend und einen Rückblick auf die frühere Forschung ermöglichend, auf den ersten Teil von Bernd Fischers Interpretation des Michael Kohlhaas 139 von 1988, die er mit der Diskussion von »vier neueren Deutungen« einleitet, »die repräsentativ für die gegenwärtigen Tendenzen der Germanistik stehen können und sich zudem ihrerseits durch einen kritischen Bezug auf die ältere Kohlhaas-Forschung auszeichnen.«140 Vorgestellt werden dann die Arbeiten von Ellis141, Gallas142, Lützeler143 und Bogdal144. – Fischers eigene, der Intention nach idealismuskritische Deutung des Kohlhaas , deckt sich keineswegs mit der meinigen, da sie nur undialektisch ironisch alles als hypokrise Anmaßung entlarven möchte, was im Kohlhaas an Autonomie erinnert. Bei Fischer werden – ganz auf der Linie der neueren französischen Schule – der »utopische Anspruch der ästhetischen Modelle« mit der idealistischen Generalthese von der »versöhnten Idee« identifiziert. Der »Autonomieanspruch der erzählenden Gattungen« werde von Kleist »in subtilen Engführungen unterwandert« wobei die »Lösungsmodelle der klassisch romantischen Literatur […] ihrer realitätsfernen Mechanismen überführt«145 würden. Dem wird in meiner Arbeit entgegengehalten, dass der Gehalt Kleist’scher Werke darin besteht, die Differenz aufzuzeigen zwischen der ästhetischen Darstellung eines vernünftigen Begriffs von Freiheit und seiner abstrakten idealistischen Verabsolutierung, die seine vermeintliche geschichtliche Erfüllung impliziert. Darum werden die Formen nicht einfach nach dem Maßstab der Realitätsgerechtigkeit unterwandert, sondern es wird immanent durchgeführt, wie sie ihre Grenzen überschreiten.
I 02) Methodische Positionierung meines Forschungsansatzes
Meine Arbeit bildet methodisch einen Beitrag zur Diskussion über eine an die Kritische Theorie anschließende kritische Hermeneutik146. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass es einer philosophischen Theorie, deren Anliegen es ist, das Unzureichende der gleichwohl zur philosophischen Selbstreflexion notwendigen Reflexionsbegriffe darzutun, aufzuzeigen obliegt, dass eine kontingente, und darum aus dem philosophischen Selbstbewusstsein nicht ableitbare Bestimmtheit, gleichwohl systematisch für die Erfüllung der Konstruktion, d. h. eben ästhetisch notwendig ist. Nur in dieser negativen Dialektik erweist sich der Stoff als eigenständig und nicht als bloß durch die Form beliebig bestimmbares Material. In diesem Sinne wird das in der Negativen Dialektik von Adorno als »Vorrang des Objekts«147 und in der Ästhetischen Theorie als »Sprache der Dinge«148 Bezeichnete als Idealismuskritik verstanden. Da aber der allgemeine Begriff eines Kontingenten ebensowenig ein Bestimmtes bezeichnet wie der Hegel’sche Begriff der Bestimmtheit in der Logik 149, sondern nur die Forderung nach einem aus dem Begriff aber nicht ableitbaren Bestimmten, geht eine bloß allgemeine methodische Darlegung notwendig an der Sache vorbei. Diese kann nur in einer modellweisen Einzelanalyse vorgeführt werden. Für die Kleist’sche Dramaturgie wird das in dieser Arbeit am zwangsläufig sich als widersprüchlich erweisenden Begriff des höchsten Gutes aus der Kant’schen Kritik der praktischen Vernunft sowie, speziell dann auf die Erzählung Michael Kohlhaas bezogen, an der Begründung des Rechts im Verhältnis zur Moral aufgezeigt. Die kontingente Rechtsverletzung auf der Grundlage des kontingenten adligen Großgrundbesitzes wird im Prozess des Handlungsverlaufs als ein ästhetisch Notwendiges erwiesen, das den falschen Schein der Vernunft bürgerlicher Verhältnisse aufdeckt. Die Möglichkeit, ein Kontingentes als ästhetisch Notwendiges zu entwickeln, beruht in der Literatur auf der Realisierung der poetischen Formbestimmungen im Stoff. Darum ist der Gehalt eines Werkes nach Adorno dadurch bestimmt, dass die Form, oder moderner ausgedrückt, die Konstruktion, am Stoff Bestimmungen entwickelt, die er für sich so nicht hat und durch die sowohl die Form zur Erscheinung kommen kann wie auch das Material zum Sprechen gebracht wird150. Dieser wechselweise Prozess von stimmiger Formänderung und Stoffentwicklung wird in dieser Arbeit am Handlungsverlauf des Michael Kohlhaas offengelegt. Solch ein Prozess macht dann »die Logik der erzählerischen Konstruktion«151 aus, wie Helga Gallas fordert, und auf die auch – unter dem Namen einer »Logik des Textes«152 – die Theorie des »erschöpfenden Interpretierens« von M. Niehaus die Deutung literarischer Werke verpflichtet. Anders als in meiner Arbeit zeigt sich aber sowohl bei H. Gallas als auch bei M. Niehaus eine nominalistische Ausweitung des Formbegriffs. Denn es werden dort – sei es die subjektiven Intentionen des Autors oder der literarischen Tradition völlig fremde Theorien (bei Gallas die Lacan’sche Psychoanalyse) – herangezogen, die die geschichtlich sich durch die Werke verändernden literarischen Formbestimmungen substituieren. Verstehbar ist die nominalistische Preisgabe des Formbegriffs daraus, dass es in der historischen Richtungstendenz der Veränderung der Formbestimmungen liegt, dass sich die Werke nur in bestimmter, und der Tendenz nach ggf. sogar abstrakter Negation noch auf die traditionellen Formbestimmungen beziehen; doch bleiben sie nur vermöge des Nachweises ihrer spezifisch motivierten negativen Beziehung interpretierbar, da sie ansonsten ihren Werkcharakter einbüßen.
Helga Gallas erwartete sich als Orientierung die Konstruktion des spezifischen Gegenstandes der Literaturwissenschaft, »und zwar, indem ein System theoretischer Begriffe eingeführt wird, das den Gegenstand als theoretischen bestimmt und die Methode seiner Analyse begründet.«153 Es erstaunt freilich, dass Helga Gallas meint, dass dies eine noch zu leistende Aufgabe wäre, denn die Philosophie der Kunst hat in einem »System theoretischer Begriffe« und dessen Kritik – eben durch die Spezifität der Kunst und den Begriff ästhetischer Wahrheit – dies längst geleistet und im weitesten Sinne die Kunst als Verwirklichung der Idee des Schönen und des Erhabenen begründet154. Der Gegenstand der Kunstwissenschaft wird aber durch sie nicht »als theoretischer bestimmt«, sondern durch die Theorie als individueller155. Peter Szondi schreibt: »Auch die Literarhistorie vermag das Besondere nur als Exemplar, nicht als Individuum zu sehen; das Einzigartige fällt auch für sie außer Betracht. […]. Solche Kritik an der Literaturgeschichte schließt keineswegs die These ein, das Individuum, das einzelne Werk, sei ungeschichtlich. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so dass einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.«156 Darum kann es auch keine »Methode seiner Analyse« im Sinne von anzuwendenden methodisch geregelten Verfahren geben, wie es sich der Strukturalismus etwa vorstellt157.
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