Zur psychologischen und postmodern-strukturalistischen Interpretation; oder zu 6) methodische Neuansätze: Text und Geheimnis:
Aus dem Bereich der psychologischen Interpretationen ist im Jahr 2007 das Buch Modernität und Bewusstsein von Gerhard Oberlin120 erschienen, das sich mit den letzten Erzählungen Kleists beschäftigt und einen ausführlichen Teil über Michael Kohlhaas enthält. Psychologischer Bezugspunkt Oberlins ist dabei nicht primär der Autor Kleist, sondern ein kreativpsychologisch betrachtetes hypothetisches auktoriales Subjekt, denn: »Die kreative Bewusstseinsarbeit des Autors spiegelt sich in der intermediären Tiefendynamik der Werke wider, […]«121, wobei Oberlin »den dazu nötigen Theorierahmen aus der Psychoanalyse bezieht.«122 Er gibt seinem Verfahren den Namen »Intermediäre Hermeneutik«, die den Prozess aufdecken soll, wie »elementare Prozesse der Subjektwerdung [sich] dynamisch abbilden, wie sie im heuristischen Widerstreit von Trieb und Triebhemmung, Lust- und Realitätsprinzip, Regression und Progression Ereignis werden.«123 Ausgehend von der »Tatsache, dass die Geschichte der Unterdrückung nicht ohne Folgen bei den Unterdrückten bleibt und dass deren Widerstand aus einer durch systematische Kränkungen bewirkten Antriebskonstellation kommt, die sie in eine tragische Dynamik der Gewalt und des Idealismus hineinzwingt«124, bestimmt Oberlin das kreative Prinzip der Erzählung Michael Kohlhaas als narzisstische Persönlichkeitsstörung. Deren dynamische Pole sind ein megalomanisch übersteigertes Ideal-Ich mit seinem Rechtgefühl und eine pathogen übersteigerte Verletzbarkeit (Vulnerabilität). »Das aktuelle Maß […] ist die ›erlittene Kränkung‹ (11) durch den Landjunker, das wahre Eichmaß aber, das ahnt der Leser, ist eine tiefe Vulnerabilität, die letztlich die psychische Eskalationsdynamik in Gang setzt.«125 In Kleists Lutherfigur findet Oberlin denjenigen gestaltet, der Kohlhaas durchschaut: »In dieser Szene wird also die Figur (Kohlhaas, B. W.) nicht nur moralisch, juristisch und politisch auf den Prüfstand gestellt, sondern auch psychologisch, indem Luther den narzisstischen ›Wahn‹ in Kohlhaas als wahre Ursache seiner Machtfiktionen und den Furor des Rechtskämpfers als egozentrische Attitüde eines Entehrten entlarvt.«126 Folgerichtig erweisen sich Kohlhaasens Vorstellungen von Recht, – die allein es möglich machen zu bestimmen, »dass ›das Unrecht, das Kohlhaas widerfährt, symptomatisch ist für das allgemeine Unrechtssystem […]‹ (Schmidt 2003, S. 216)«127 – als Derivate einer Persönlichkeitsstörung, was an der Zigeunerin belegt wird: »Elisabeth ist also nicht nur das psychische Derivat von Lisbeth, sondern auch der Ersatz für die väterlich apostrophierte, indes mütterlich archaische Rechts- und Staatsfiktion, an die Kohlhaas sein Ich-Ideal und seine bürgerliche Rollenimago koppelt.«128
Immanent nachgewiesen ist Oberlins Interpretation fragwürdig, weil sie selbst zeigt, dass ihre Voraussetzung nicht gegeben ist. Denn Oberlin muss davon ausgehen, dass eine von früher Kindheit her existierende narzisstische Struktur durch die Ereignisse im 30. Lebensjahr aktiviert wird. Im Text jedoch fehlt für den Nachweis der Existenz eines entsprechenden »Milieus« psychotroper soziokultureller Faktoren129 nicht nur jeder Hinweis130, sondern alles spricht für das Gegenteil. Kohlhaas ist alles andere als ein Mensch, der durch narzisstische Allüren auffällig geworden war, oder ein vor Hass kranker Unterdrückter, sondern »der musterhafte Bürger, der ›sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte‹, ist Pferdehändler, […], hält auf ›Arbeitsamkeit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Treue‹, […]«131 etc. Kohlhaasens Übereinstimmung mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen könnte, wie seine anfänglichen Vorstellungen in der Exposition des Konflikts belegen, nicht harmonischer sein (vgl. Teil B 03).
Auf den prinzipiellen Mangel aller psychologischen Interpretationen, die Kassierung des Unterschieds zwischen dem vernünftigen Ich und dem psychischen Ich, kann hier nur mit einem zitatweisen Verweis eingegangen werden: »Das Ich fällt als Organisationsform aller seelischen Regungen, als das Identitätsprinzip, welches Individualität überhaupt erst konstituiert, auch in die Psychologie. Aber das ›realitätsprüfende‹ Ich grenzt nicht bloß an ein Nichtpsychologisches, Auswendiges, dem es sich anpasst, sondern konstituiert sich überhaupt durch objektive, dem Immanenzzusammenhang des Seelischen entzogene Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte.«132
Die Kassierung dieses Unterschieds wird noch radikalisiert, wenn in der auf Lacan, Deleuze, Foucault, Derrida etc. fußenden Richtung der postmodern-strukturalistischpsychologischen Literaturanalyse über den totalisierten Begriff des Unbewussten als eines unabschließbaren Fließens eine Vorstellung von einem abstrakten Anarchismus entwickelt wird, der sich gesellschaftskritisch dünkt, weil er blind gegen seine eigenen Voraussetzungen und in undialektischem Furor alles Feste mit Herrschaft oder Macht gleichsetzt, die es aufzulösen oder zu verflüssigen gelte. Dazu als Beleg: »Der Apparat ist ein Versuch, das Fließen des Textes zu unterbrechen, sich zwischen den Text und den Leser zu setzen, und zu bestimmen, wie und wohin der Text fließen soll. (Deleuze 2001a) Die Kodierung des Fließens ist eine grundlegende Operation jeder Gesellschaft, und jeder, der sich der Gesellschaft als nicht kodierbares Fließen präsentiert, wird von ihr als Feind behandelt. (Deleuze 2001a)«133 Hier wird, unter Rückfall auf das Heraklidische Prinzip des »panta rei (alles ist in Fluss)«134, ganz nach kleinbürgerlicher Manier Willkür mit Freiheit verwechselt und rigoros das geschichtliche Vermittlungsproblem menschlicher Freiheit unterschlagen. Die Rede vom »Fließen des Textes« unterstellt eine Unmittelbarkeit auf Seiten des Kunstwerks ebenso wie auf Seiten des Lesers, die in einer durch und durch rational vermittelten Gesellschaft weder produktionsästhetisch nachweisbar ist, noch kulturellen Standards entspricht. Ein Kunstwerk ist als ein Geistiges ein Gemachtes und steht damit in Beziehung zu Tradition und Gesellschaft, noch wo es sie aus innerer Konsequenz heraus verleugnet. Soll Kunst nicht das abstrakt ›ganz Andere‹ und damit menschlichen Zwecken gegenüber gänzlich Gleichgültige sein, so hat die Interpretation das Verhältnis beider zum individuellen Kunstwerk zu erklären. Andernfalls bleibt es auf Grund der Abstraktheit des jeweiligen Prinzips gleichgültig, ob man die prinzipielle Unzulänglichkeit jeder Interpretation aus dem Fließen des Unbewussten oder aus der Saussure’schen Sprachtheorie ableitet (prinzipielle ›Fehllektüren‹). Darum entbehrt es nicht einer absurden Komik, wenn Peter Horn an den Dekonstruktivisten ihre Inkonsequenz kritisiert: »Sie (die dekonstruktivistische Methode, B. W.) fetischisiert die Aporie, den Abgrund an dem Ort des Widerspruchs zwischen zwei und mehr Diskursen, besteht aber dennoch auf einem sicheren Standpunkt in der Sprache, die diese Aporie aufdeckt, als ob der Text der Dekonstruktion eine Sicherheit böte gegen den Widerspruch. […]. Viele Dekonstruktivisten feiern die Tatsache, dass die Aporie der Ort des freien Spiels ist. Bei allem Misstrauen dem Text gegenüber wird die Aporie für den dekonstruktivistischen Kritiker der Anlass, noch mehr Text zu produzieren.«135 Schon Aristoteles136 wusste, dass man aus einem Widerspruch etwas und sein Gegenteil folgern kann und dass der, der Entgegengesetztes sagt, nichts Bestimmtes und damit nichts sagt. Für die genannten Strömungen der Literaturanalyse gilt dieses Gegenteil von Wissenschaft (denn für Wissenschaft ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch die formale Voraussetzung) als condition humaine. Wissenschaft wurde und wird dagegen auf der Grundlage dieser formalen Voraussetzung durch das präzise Stellen von Problemen (Widersprüchen) und durch deren Aufhebung (nicht nur im Hegel’schen Sinn, also auch in der Forderung ihrer) entwickelt – und nicht im Angesicht der Widersprüche durch ein sogenanntes freies Spiel, das nichts Anderes ist als ein sich aus dem ›Schatz‹ der Tradition großzügig bedienendes willkürliches und eklektizistisches Assoziieren, das sich durch die Verwendung gewichtiger Begriffe und fachwissenschaftlicher Detailkenntnisse den Anschein von exakt argumentierender Wissenschaft gibt137.
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